Schilf
mehr, ins Bett zu gehen, weil sich der Lärm seiner Gedanken im stillen Dunkel des Schlafzimmers bis zur Unerträglichkeit steigern kann. Einmal ist Maike lang nach Mitternacht zu ihm gekommen. Die Schritte ihrer nackten Füße im Flur klangen nach einem kleinen Mädchen. Als er aufsah, stand sie vor ihm und sah in ihrem Nachthemd klein und zerbrechlich aus. Bleib bei uns, sagte sie. Bevor er etwas erwidern konnte, hatte sie sich abgewandt und war verschwunden. Sebastian lief ihr nicht nach, weil er nicht sicher war, ob er sie wirklich gesehen hatte.
Am Morgen nach solchen Nächten weiß er kaum noch, in welcher Welt er sich befindet. Beim Frühstück ist er kein Mann neben seiner Ehefrau, sondern ein Mensch, der sich in der eigenen Wohnung erschrocken zwei Unbekannten gegenübersieht. Dann scheint ihm Liam plötzlich um Jahre zu alt, sein Kinderlachen falsch, das geliebte Gesicht ganz unvertraut. Inmitten seiner Familie kommt sich Sebastian vor, als wäre er durch einen Fehler in ein fremdes Universum geraten. Das schreckliche Gefühl, im eigenen Leben bloß zu Gast zu sein, kennt er schon lang. Seit Liams Geburt gibt es Momente, in denen er sich für einen Betrüger hält, als hätte er sich ein Glück erschlichen, das ihm nicht zusteht und für das er hart bestraft werden wird. In solchen Augenblicken will er seine Haut ablegen wie einen geliehenen Mantel und alles zerschlagen, was ihm lieb und teuer ist, bevor es ihm von der ausgleichenden Gerechtigkeit genommen werden kann. Neu sind die Tage, an denen er glaubt, es handele sich dabei nicht um ein persönliches, sondern um ein physikalisches Problem.
Oskar gegenüber nannte er diese Verwirrungen einmal die Nebenwirkungen einer großen Idee. Daraufhin richtete dieser einen strengen Zeigefinger auf ihn. Gib dir keine Mühe mit deinen Neurosen, sagte er. Aus dir wird niemals ein großer Mann. Alles, was für dich Bedeutung besitzt, trägt deinen Nachnamen. Daran kannst du es erkennen.
Damals hat sich Sebastian über die Bemerkung maßlos geärgert. Jetzt beruhigt sie ihn. Als Kind quälte er sich vor dem Einschlafen oft mit der Frage, ob er, von einem barbarischen Mörder vor die Wahl gestellt, den Vater oder die Mutter retten würde. Müsste er sich heute zwischen Maike und der Physik, überhaupt zwischen Maike und dem Rest der Welt (mit Ausnahme von Liam) entscheiden, hätte seine Frau, trotz aller wissenschaftlichen und sonstigen Obsessionen, nicht das Geringste zu befürchten.
Am Nachmittag hat er sie zum Bahnhof gebracht. Als der Zug einfuhr, nahm er sie in den Arm und sagte, dass er sie liebe. Sie gab ihm einen Klaps auf den Rücken, wie einem braven Pferd, erwiderte, dass er auf sich aufpassen solle, und hob ihr leichtes Rennrad dem Schaffner entgegen. Im Zugfenster verschwamm sie zu einem hellen Fleck, während Sebastians Arm vom Winken zu schmerzen begann. Er fühlte sich kleiner werden, immer weiter schrumpfen und schließlich hinter der langgestreckten Kurve verschwinden.
Dieser Urlaub, denkt Sebastian jetzt, ist ein kurzer Ausnahmezustand. Danach wird er sein Familienglück nicht länger wegen eines überreizten Wahnsinns gefährden. Er wird die leidige Fernsehsendung vom Vorabend vergessen und seine »Langzeitbelichtung« fertigstellen. Im Anschluss daran wird er Oskar anrufen und ihn bitten, an den ersten Freitagen im Monat nicht mehr zu Besuch zu kommen.
Kaum hat er diesen Entschluss gefasst, fühlt er sich befreit, als hätte man ihm einen Dorn aus dem Fleisch gezogen. Im Rückspiegel kontrolliert er Liams Schlaf und betrachtet lange das friedliche Gesicht. Aus dem nächsten Kadaver am Straßenrand reißt ein breitschwänziger Bussard weißes Gedärm. Seit Sebastian angefangen hat, auf Raubvögel zu achten, konnte er mehr als fünfzehn zählen. Sie sitzen in den Bäumen, manche sogar am Straßenrand, und beobachten aus wimpernlosen Augen den Verkehr. Es kommt ihm vor, als wären es unnatürlich viele. Oder, schlimmer noch, immer derselbe.
Bei Geisingen verlässt der Volvo die Landstraße und wechselt auf die A 81.
4
D er Zapfhahn gluckert, als würde er Benzin aus dem Tank saugen, statt neues hineinzufüllen. Während die Zahlen einander über die Preisanzeige jagen, kratzt Sebastian mit einem Schwamm gelbe und violette Fliegenleichen von der Windschutzscheibe. An der Kasse kauft er einen Schokoriegel und versenkt ihn, da Liam immer noch schläft, beim Einsteigen im Seitenfach der Tür. Vorsichtig dreht er den Schlüssel in der Zündung, als
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