Schilf
könnte er auf diese Weise das Geräusch des anspringenden Motors dämpfen. Der Wagen rollt langsam um die Tankstelle herum.
Der Parkplatz hinter dem Gebäude ist fast leer. Neben einem Wohnwagen sitzt ein Ehepaar auf Campingstühlen und isst zu Abend. Eine junge Frau führt ihren Hund auf dem Grasstreifen spazieren; der leichte Wind bläst ihr das Haar ins Gesicht. Die Sonne scheint schräg durch die Baumkronen; das Licht bricht sich in den Zweigen zu kitschigen Sternen. Neben schmutzigen Lastwagen bringt Sebastian den Volvo erneut zum Stehen. Auf den letzten Kilometern ist er mehrmals aus einer dunklen Leere aufgeschreckt. Sekundenschlaf. Er braucht eine Pause.
Die Luft riecht nach Schmieröl und erkaltenden Maschinen. Mit den Armen schlenkernd und von einem Bein aufs andere hüpfend, erreicht Sebastian den Rand des Rastplatzes. Auf den Rohren des Geländers singt mehrstimmig der Wind. Im Tal liegt ein belangloses süddeutsches Städtchen, dessen Straßen wie Flüsse spiegeln. Noch lässt sich die Landschaft den Bodensee nicht anmerken. In höchstens einer halben Stunde aber wird er zwischen den Bäumen auftauchen. Sie werden ihn der Länge nach abfahren und an seinem östlichen Ende die unsichtbare österreichische Grenze überqueren, bevor sie in der Nähe von Bregenz ihr Ziel erreichen. 7,47 Grad östlicher Länge; 47,57 Grad nördlicher Breite. Die Koordinaten hat er mit Liam im Atlas nachgeschlagen. Ständig hält die Welt eine Unmenge von Informationen bereit, nur nicht jene, die man bräuchte, um zu wissen, was im nächsten Augenblick geschieht. Um später nicht noch einmal anhalten zu müssen, beschließt Sebastian, auf die Toilette zu gehen.
Er wäscht sich die Hände, als das Telefon klingelt. Eilig reibt er die Finger an der Hose trocken, klemmt das Handy zwischen Schulter und Ohr und stemmt sich gegen die Schwingtür. Eine dicke Frau im chirurgengrünen Kittel deutet auf einen Unterteller, in dessen Mitte eine einzelne Münze liegt.
»Maike?«
Sebastian ignoriert die Toilettenfrau und geht mit schief gelegtem Kopf den Gang hinunter.
»Bist du gut angekommen? Wie ist das Hotel?«
»Entschuldigen Sie die Störung. Ich möchte Sie bitten, kurz stehen zu bleiben und mir zuzuhören.«
Entfernt kommt Sebastian die Stimme bekannt vor. Sie ist jung genug, um einer der wenigen Studentinnen am Institut zu gehören. Er nimmt das Telefon vom Ohr, um auf das Display zu blicken. Anruf von Unbekannt.
»Wer ist da?«
»Vera Wagenfort.«
Im Geist geht Sebastian die Frauen an seiner Fakultät durch. Eine Vera ist nicht dabei.
»Hören Sie, der Moment ist ungünstig. Ich verlasse gerade eine öffentliche Toilette, wenn Sie es genau wissen wollen.«
»Ich sage es zum letzten Mal. Bleiben Sie stehen. In Ihrem eigenen Interesse.«
Diese Frau will nichts verkaufen; sie hat sich auch nicht verwählt. Ein kalter Schreck zementiert Sebastians Beine in den Kachelboden. Direkt vor ihm steht ein Glaskasten, der mit bunten Stofftieren, Uhren und Spielzeugautos gefüllt ist. Liam liebt diese Maschinen. Für einen Euro setzen sie eine Greifklaue in Bewegung, die sich mit zwei Knöpfen steuern und absenken lässt. Meistens gelingt es, die Beute zu fassen, aber wenn der Arm zurückfährt, stößt er mit einem Ruck an den Rand der Rutsche, und fast immer fällt der Gewinn in den Kasten zurück. Von wortreichen Ausführungen zum Thema Erfolgschancen lässt sich Liam nicht den Spaß verderben. Wäre er jetzt hier, würde er Sebastian mit Sicherheit ein passendes Geldstück aus dem Kreuz leiern.
»Zunächst soll ich Sie bitten, unter allen Umständen Ruhe zu bewahren. Mein Auftraggeber meint, dass Sie das können.«
Die Stimme klingt, als läse sie ihren Text von einem Zettel ab.
»Das Wichtigste ist: Sprechen Sie mit niemandem. Haben Sie das verstanden? Mit niemandem. Verlassen Sie jetzt das Gebäude. Ich bin sofort wieder bei Ihnen.«
Die Verbindung ist unterbrochen. Sebastian schüttelt das Telefon, als müsste eine Erklärung herausfallen. Sein Blick begegnet dem eines rosafarbenen Stoffhündchens, das ihn bittend anzusehen scheint. Endlich reißt er sich los, überwindet die letzten gefliesten Meter und öffnet die Tür ins Freie.
In den klimatisierten Räumen des Rasthofs hat er vergessen, wie warm der Abend ist. Noch immer hat er die Bilder der Autofahrt im Kopf. Wenn er die Augen schließt, fliegen die Stücke des Mittelstreifens auf ihn zu, ein Raubvogel beobachtet das Geschehen, eine tote Katze liegt am
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