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Schilf

Schilf

Titel: Schilf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juli Zeh
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Alkohol herrührt oder vom Glück. Oskar und Maike tanzen, von Wein und Müdigkeit gewiegt. Sie hat die Augen geschlossen und die Wange an seine Schulter gelegt. Sebastian schaut zu und fühlt sich in den Polstern versinken. Seine freie Hand gräbt sich ins Sofakissen, als suchte er einen Hebel, um den Augenblick am Vergehen zu hindern. Es ist der letzte glückliche Abend in dieser Wohnung, und mehr noch als für die anderen ist es für Sebastian pure Gnade, dass der Mensch nicht in die Zukunft sehen kann.

Zweites Kapitel in sieben Teilen, in dem die erste Hälfte des Verbrechens geschieht. Der Mensch ist überall von Tieren umgeben.
    1
    Z wei Tage später, Sonntag, früher Abend. Unter einem solchen Himmel, denkt Sebastian, gleicht die Welt einer Schneekugel, vergessen auf Gottes Regal und schon seit längerem nicht mehr geschüttelt. Weil ihm die Müdigkeit auf Augen und Armen lastet, hat er die Scheibe ein Stück heruntergelassen. An Hemd und Haaren zerrt der Wind. Draußen strecken sich Wiesen im satten Licht, Strommasten stehen neben ihren langgezogenen Schatten stramm. Die Schlängelstraße ist einer Gegend aufgemalt, die es schafft, auch im Sommer nach Skigebiet auszusehen. Am Horizont sind die Hänge gerodet; ein paar Resttannen bilden verlorene Grüppchen. Wenn der Fels nah an die Straße rückt, hält Maschendraht das Geröll zusammen. Im Graben liegt eine schwarze Katze, der das Überqueren der Fahrbahn von links Unglück gebracht hat.
    Wenn Sebastian nicht in die Landschaft schaut, heftet er seine Augen an den Mittelstreifen, dessen weiße Stücke seltsam verzögert auf ihn zufliegen, bevor sie ruckweise unter dem Wagen verschwinden. Je länger er hinsieht, desto deutlicher meint er, ein Geräusch zu vernehmen wie von leisen Schritten: das Vergehen der Zeit.
    Die letzte Nacht hat ihm nicht mehr als zwei Stunden Schlaf gebracht. Nachdem er gegen vier Uhr trotz klopfendem Herzen und schweißnassem Laken endlich eingeschlafen war, stand um sechs ein aufgekratzter Liam am Bett und verlangte unbedingte Aufmerksamkeit für das Ergebnis einer Berechnung. In spätestens 26 Stunden, 13 Minuten und circa zehn Sekunden, rief er, sei er schon mit den Pfadfindern im Wald!
    Sebastian kam zu sich mit dem Gefühl, eine Katastrophe überlebt zu haben, an die er sich schlecht erinnern konnte. Trotzdem musste er über Liams Aufregung und das circa lächeln. Er konnte sich vorstellen, wie sein Sohn mit Papier und Stift auf die Jagd nach den voranpreschenden Sekunden gegangen war, die im Moment, da er sie niederschreiben und dingfest machen wollte, immer schon nicht mehr galten. Als Sebastian die Füße aus dem Bett schwang und auf den Boden stellte, kehrte die Erinnerung an den vergangenen Abend zurück und legte sich wie ein Bleimantel um seine Schultern. Das Radio im Bad spuckte auf Knopfdruck eine Explosion von Tönen aus, als hätte sich der Lärm über Nacht darin angestaut. Vor lauter Angst, den eigenen Namen aus den Lautsprechern zu hören, schaltete Sebastian das Gerät sofort wieder ab. Unter der Dusche drehte er das Heißwasser bis zum Anschlag auf. Während der Dampf die Glaswände beschlug, erklärte er sich mehrmals und mit vernünftigen Argumenten selbst, dass nichts Schlimmes passiert sei. Zirkumpolar verfüge über vergleichsweise geringe Einschaltquoten, und die Kollegen am Institut schauten keine populärwissenschaftlichen Sendungen. Außerdem würde niemand die Ereignisse so tragisch nehmen wie er. Niemand könne sich heutzutage länger als ein paar Tage an etwas erinnern, schon gar nicht, wenn es im Fernsehen gesendet worden sei.
    Einen Steinwurf von der Straße entfernt überquert eine Flotte glänzender Boote mit gehörnten Galionsfiguren ein sonnengelbes Meer. Nach kurzer Irritation erkennt Sebastian Hirsche, die …
    »Guck mal, Liam! Da links!«
    … im Rapsfeld spazieren gehen. Und schon vorbei. Bäume jagen den Fahrbahnrand entlang, zurück in die Richtung, aus der Sebastian gekommen ist. Die Luft riecht nach Pilzen, Erde und einem Regen, der seit Wochen nicht gefallen ist. Sebastian bekommt Lust, immer weiter nach Süden zu fahren, als wäre Süden ein Ort, den man erreichen kann. Er versucht, ein Lied zu pfeifen, I haven’t moved since the call came , aber die Töne, die ihm von den Lippen kommen, wollen mit der Melodie im Kopf nicht das Geringste zu tun haben.

2
    G leich nach der Sendung hat er Maike angerufen. Er hatte sich von niemandem verabschiedet, war nur kurz in die Garderobe

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