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Schilf

Schilf

Titel: Schilf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juli Zeh
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menschlichen Körpers Schmerz entstehen kann und wie es sich anfühlt, wenn er mit scharfen Krallen den Hals hinaufklimmt, bemüht, das Gehirn zu erreichen. Vera Wagenfort holt Luft. Dann sagt sie es.
    Dabbeling muss weg.
    Die Sonne ist hinter den Wipfeln versunken und hat die Schatten der Dinge mitgenommen, um sie bis zum nächsten Tag zu verwahren. Ringsum stehen noch einzelne Autos auf ihren Plätzen. Keine Menschenseele ist zu sehen. Nur ein herrenloser Wind läuft am Boden umher, dreht einen leeren Pappbecher im Kreis, lässt Sebastians Hosenbeine flattern. Dieser schaut auf die Uhr, als hätte er gleich einen wichtigen Termin und keine Zeit für weiteres Geplauder. Kurz nach halb zehn. Die Uhrzeit sagt ihm nichts. Er hat sich noch nie so einsam gefühlt.
    »Wiederholen Sie das«, sagt er.
    »Ich bin angewiesen, auf Nachfrage hinzuzufügen: Dann wird alles gut. Haben Sie das verstanden?«
    »Das dürfen Sie nicht«, sagt Sebastian. »Ich flehe Sie an.«
    »Ansonsten ist Ihnen die Grundsituation wahrscheinlich bekannt: Keine Polizei. Zu niemandem ein Wort. Auch nicht zu Ihrer Frau.«
    Es entsteht eine Pause, als wären sie in einem schwierigen persönlichen Gespräch und wüssten nicht mehr weiter. Die Stimme der Anruferin ist nicht unangenehm. Sebastian stellt sich eine gesunde junge Frau dazu vor. Vielleicht, denkt er, würden wir uns unter anderen Umständen gut verstehen.
    »Gehen Sie jetzt in das Restaurant des Rasthofs«, sagt die Frau und raschelt mit ihrem Zettel. »Hören Sie noch zu?«
    »Ja.«
    »Es gibt doch einen Rasthof und ein Restaurant, dort, wo Sie sind?«
    »Ja.«
    »Setzen Sie sich in der Nähe der Theke. Kaufen Sie ein Bier und eine Zeitung. Es kann eine Weile dauern, bis ich mich wieder melde. Lassen Sie das Telefon eingeschaltet.«
    »Warten Sie!«, ruft Sebastian. »Ich werde … Wir können doch …«
    Die Tasten des Handys waren schon immer zu klein für seine Finger. Endlich findet er die Gesprächsliste. Zwei Anrufe von Unbekannt. Dabei hätte er gern zurückgerufen und erklärt, dass er in solchen Angelegenheiten nicht die geringste Erfahrung besitzt; dass er ein paar Hinweise braucht. Auch möchte er fragen, warum man ausgerechnet ihn ausgesucht hat. Was er jetzt tun soll. Und wie. Und wann. Ganz wie Vera Wagenfort vermutet hat, ist ihm die Grundsituation tatsächlich bekannt. Sie wird mehrmals wöchentlich im öffentlich-rechtlichen Fernsehen ausgestrahlt, verpackt in einen jener schlecht ausgeleuchteten, vom deutschen Realismus zu Tode bürokratisierten Fernsehkrimis, die Sebastian noch nie leiden konnte. Dummerweise unterrichtet keiner dieser Filme darüber, was man in einer solchen Lage denken und fühlen soll. Auch erfährt man nicht, wie man mit einem Drei-Wörter-Satz umzugehen hat. Es sind immer Drei-Wörter-Sätze, die das Leben eines Menschen entscheidend verändern. Ich liebe dich. Ich hasse dich. Vater ist tot. Ich bin schwanger. Liam ist fort. Dabbeling muss weg. Nach einem Drei-Wörter-Satz ist man ganz allein.
    Eine Zeit lang ist Sebastian damit beschäftigt, sich die Haltung eines Menschen ins Gedächtnis zu rufen, der herumsteht und Zeit hat. Er stellt ein Bein zur Seite, verschränkt die Arme und senkt das Kinn auf die Brust. Der leere Pappbecher rutscht über den Asphalt. Sebastian schaut zu und wartet auf die gnädige Wirkung des Schocks.
    Als er nach einigen Minuten den Blick hebt, sieht er seine Umgebung überdeutlich wie durch eine Taucherbrille. Seine Atmung geht gleichmäßig; das Herz schlägt nicht öfter als einmal in der Sekunde. Er blickt sich um (das schwankende Licht eines Scheinwerferpaars, eine Frau im rosafarbenen Mantel, die ihren Sportwagen verlässt) und würde wohl endlich die Kräfte begreifen, die das Universum im Innersten zusammenhalten, wenn er Lust hätte, darüber nachzudenken. Er glaubt nun zu wissen, was man von ihm will. Er weiß sogar, wer die Täter sind. Er kann sich vorstellen, wie sie dem schlafenden Liam einen Lappen mit Chloroform auf Mund und Nase gedrückt haben und ihn jetzt in irgendeine Wohnung oder gleich auf die Intensivstation des Krankenhauses bringen. Für Ärzte ist es ein Leichtes, ein Kind im künstlichen Koma zu halten, so lange eben, wie sie Sebastian Zeit geben möchten, um seinen Auftrag zu erfüllen. Ebenso leicht wäre es, Liam für immer zu beseitigen. Sie wissen, dass er nicht darauf vertrauen kann, seinen Sohn tatsächlich zurückzubekommen, und dass ihm trotzdem nichts anderes übrig bleibt, als ihren

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