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Schilf

Schilf

Titel: Schilf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juli Zeh
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Straßenrand. Sebastian umrundet das Gebäude und bleibt stehen, als er den Parkplatz überblickt. Da sind die Lastwagen. Er liest die Aufschrift auf einer Plane: Wir können alles außer Hochdeutsch. Der Wohnwagen ist weg. Auch die Lücke, in der der Volvo gestanden hat, ist unbesetzt. Sebastian fragt sich nicht einmal, ob er woanders geparkt haben könnte. Er weiß genau, wo sein Auto stand. Der Platz ist unerträglich leer. Leerer als jeder andere Ort auf dem Planeten. Es dauert mehrere Sekunden, bis er diese Tatsache verstanden hat.
    Im Bogen läuft er über die von weißen Linien zerteilte Asphaltfläche, und obwohl seine Beine mit jedem Schritt länger werden, glaubt er wie in einem Alptraum, nicht vom Fleck zu kommen. Erst als er auf dem Beschleunigungsstreifen steht und der Autobahn nachschaut, wie sie mitsamt der glänzenden Wagendächer in hohem Tempo über den Hügel verschwindet, bringt ihn das an- und abschwellende Hupen zur Besinnung. Die Frequenz der Schallwellen, pflegt Sebastian seinen Studenten zu erklären, ist abhängig von der Relativbewegung zwischen Beobachter und Objekt. Der Dopplereffekt. Mit dem Licht ist es dasselbe. Wenn Sebastians Sinne ein wenig schärfer wären, würde er die sich entfernenden Fahrzeuge als rot wahrnehmen, die auf ihn zukommenden hingegen als blau. Allesamt blau wie der Volvo, den er vermisst.
    Gleich darauf rennt er über eine Wiese, vorbei an umgestoßenen Papierkörben und grob gezimmerten Sitzgruppen. In einiger Entfernung stehen zwei Trucker neben dem abgeklappten Kopf einer Zugmaschine, halten Kaffeebecher vor den Bäuchen und sehen zu ihm hinüber. Aus irgendeinem Grund hat Sebastian die Hände in den Hosentaschen, was ihn beim Laufen behindert. Sein Mund steht schon offen und will etwas rufen, als ein Schalter im Kopf in die richtige Einstellung springt. Mit niemandem sprechen.
    »Isch dir ebbes fortkumme?«
    Die Stimme des Dicken ist zu hoch für seine Leibesfülle. Sebastian winkt ab und zwingt sich zu einem harmlosen Schlendern. Jede Bewegung muss er seinen Gliedern einzeln diktieren, fast wäre er gestolpert; das muss der Gang eines Verrückten sein. Mitten in der grässlichen Lücke bleibt er erneut stehen. Seinem Herzen ist es im Körper zu eng geworden, es sucht einen Weg durch den linken Lungenflügel hinauf. In den Löchern eines Kanaldeckels wächst eine fleischige Pflanze, die Sebastian aus japanischen Steingärten kennt. In zähen Schlieren windet sich der Parkplatz um ihn herum. So sieht die Welt aus, wenn man sie von einer der Drehscheiben betrachtet, die Liam auf Spielplätzen allen anderen Geräten vorzog, bevor er zu alt dafür wurde. Sebastians Schläfen sind eiskalt. Die Zeit ist eine Kartei mit unendlich vielen Karten. Er fängt an zu blättern, sucht das Paralleluniversum, in dem er Liam nicht schlafend im Wagen zurückgelassen hat. Oder eines, in dem Maike nicht auf die Idee mit dem Pfadfinderlager gekommen ist. Oder gleich eines, in dem er Maschinenbau studiert hat und in Amerika lebt. Er tritt einen Schritt zur Seite, um dem Volvo Platz zu machen, der gleich aus dem Nichts auftauchen wird, um wieder an seiner angestammten Stelle zu stehen. Sebastian fasst sich an die Stirn. Der Lastwagen hinter ihm rüttelt und zittert wie ein Käfer vor dem Abheben, knickt die Schnauze zur Seite und rollt auf die Ausfahrt zu. Wir können alles außer Hochdeutsch. Vera Wagenfort. Witzbolde, überall Witzbolde. Das wird sich aufklären lassen.
    Eine Familie kehrt zu ihrem gelben Toyota zurück. Zwei Kinder klettern auf die Rückbank. Das Mädchen ist in Liams Alter.
    Sebastians Telefon klingelt.

5
    D iesmal wartet sein Körper nicht auf einzelne Anweisungen, sondern reagiert schon, bevor er einen Befehl erhalten hat. Lippen, Zunge und Zähne tun sich zusammen und schreien ins Handy.
    »Was wollt ihr? Ich kann alles besorgen!«
    Eine Hand legt sich über seinen Mund und hindert ihn am Sprechen; es ist seine eigene. Am anderen Ende der Leitung dehnt sich ein unsicheres Zögern. Dann räuspert sich die weibliche Stimme.
    »Herr Professor, man hat mich beauftragt, Ihnen eine Botschaft zu überbringen. Einen einzigen Satz. Es hieß, Sie würden verstehen. Sind Sie bereit?«
    »Mein Sohn«, stöhnt Sebastian.
    »Entschuldigen Sie, ich weiß nicht, worum es geht. Ich habe nur darauf zu achten, dass Sie den Satz begreifen. Wollen wir dann?«
    Die Freundlichkeit seiner Gesprächspartnerin gibt Sebastian den Rest. Er hat nicht gewusst, wie tief im Inneren eines

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