Schilf
ihren Worten meint Sebastian, seinen Sohn zu hören, so deutlich, dass auch Maike es bemerken müsste: In 26 Stunden, 13 Minuten und circa zehn Sekunden bin ich schon mit den Pfadfindern im Wald! – Sebastian muss die Leitung frei halten und den Akku schonen. Maike redet von dunstigen Bergen. Von kleinen Seen, die wie blaue Augen in den Himmel schauen. Von Schwimmbad, Sauna und Massage. Cuba Libre an der Bar.
»Maike!«
Das klingt schroffer als beabsichtigt. Sebastian fehlt die Geduld, um auf einen bestimmten Tonfall zu zielen.
»Was ist denn los?« Ein schwacher Abglanz seines Schreckens färbt auch ihre Stimme.
»Ich muss Schluss machen. Der Akku.«
»Hat mit Liam alles geklappt?«
»Er hat die ganze Fahrt geschlafen.«
»Bist du zu Hause?«
»Fast.«
»Sicher, dass alles in Ordnung ist?«
»Klar! Maike, der Akku …«
Eine kleine Melodie, und das Display zeigt zum Abschied zwei ineinander verschlungene Fische. Sebastian hat nie verstanden, was der Hersteller seines Telefons ihm damit sagen will. Als er noch einmal versucht, das Handy anzuschalten, kommt er bis zur Eingabe des PIN-Codes, bevor die Tastenbeleuchtung erlischt. Er will den Kopf in die aufgeschlagene Zeitung sinken lassen und muss feststellen, dass er schon dort liegt. Drei Zentimeter vor seinem rechten Auge lacht ein blonder Mann von einem Photo. Das ist er selbst. Die Bildunterschrift kennt er auswendig. Alles, was möglich ist, geschieht. Freiburger Professor erklärt die Theorien des Zeitmaschinenmörders.
Er hat keine Kraft mehr, um überrascht zu sein, als jemand seinen Namen ruft. Die Kassiererin kommt an den Tisch; das gelb-rote Muster ihrer Schürze verschwimmt ihm vor Augen.
Die Anruferin habe ihn nicht sprechen wollen. Sie lasse nur ausrichten, dass Sebastian, wenn er möge, zu seinem Wagen zurückkehren könne.
7
D ie Laternen am Rand des Parkplatzes tragen weite Röcke aus Licht. Ohne die flankierenden Lastwagen war Sebastians Lücke keine Lücke mehr, sondern nur noch ein beliebiger Ort auf der Fläche schwarzen Asphalts. Jetzt hingegen ist alles Lücke außer dem Volvo, der an der alten Stelle steht, als wäre er niemals fort gewesen. Sebastians Schatten eilt ihm voraus und wirft sich gegen die Fahrertür; sie ist unverschlossen, die Rückbank leer. Liams Gepäck fehlt. Der Boden des Kofferraums gehört dringend einmal gesaugt.
Die Zündung reagiert nicht auf den Schlüssel. Sebastian bückt sich und findet ein paar Kabel, die lose aus den Armaturen hängen. Als er zwei Enden verbindet, springt der Wagen an. Wenn er das Gewirr mit den Schienbeinen berührt, flackern die Scheinwerfer, und der Motor hustet. Sebastian spreizt die Knie, so weit er kann, legt den Gang ein und fährt los.
Auf der A 81 treiben wenige Autos ihren unbekannten Zielen entgegen. Nach den ersten Kilometern schaltet Sebastian das Radio ein. I haven’t moved since the call came. Leise singt er mit, immer auf einem Ton.
Drittes Kapitel in sieben Teilen. Höchste Zeit für den Mord. Erst läuft alles nach Plan und dann doch nicht. Es ist nicht ungefährlich, einen Menschen beim Warten zu zeigen.
1
D as Haus liegt im hinteren Winkel einer Sackgasse und hält selbstbewusst Abstand zu den anderen Gebäuden, als wäre es stolz darauf, das Heim einer alleinstehenden Person zu sein. Selbst in der Dunkelheit ist dem Garten anzusehen, dass tagsüber keine Kinder in ihm spielen und dass eine bezahlte Hilfskraft den Rasen mäht. Auf dem Grasstreifen neben der Einfahrt reckt ein steinerner Kranich den Hals gen Himmel, im Abheben von seinem Sockel am Boden gehalten. Ihn umgibt die schale Aura eines Gegenstands, der niemanden erfreut.
Um Dabbelings Adresse herauszufinden, musste Sebastian nicht einmal die Auskunft anrufen. Es genügte, in Maikes privatem Notizbuch nachzusehen. Seit zwei Stunden hockt er hinter den Mülltonnen, den Rücken an die Hauswand gelehnt. Durch einen Spalt zwischen den Tonnen hat er einem pompösen Sonnenuntergang zugesehen (der Himmel ein dreifarbiges Meer, dazu Wolkengebirge mit Goldrand) und ist dabei ein wenig melancholisch geworden, weil sich das beim Anblick von optischen Phänomenen am Abendhimmel so gehört. Die Nacht ließ sich davon nicht beeindrucken und brach herein. Seitdem vertreibt sich Sebastian die Zeit, indem er zu den flimmernden Fenstern eines benachbarten Mehrfamilienhauses hinübersieht. Mindestens drei Wohnzimmer gucken denselben Film. Vorhin hat es gebrannt, später gab es eine Schießerei. Im Augenblick
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