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Schilf

Schilf

Titel: Schilf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juli Zeh
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Anweisungen zu folgen.
    Wenn Dabbeling plaudert, denkt Sebastian, bricht das ganze Krankenhaus zusammen. Ein Chefarzt hat Mist gebaut und braucht nicht nur den Tod eines Mitwissers, sondern auch den passenden Täter dazu. Den haben sie gefunden. Seine Frau ist gut mit dem Opfer befreundet, und Eifersucht ist eines der beliebtesten Mordmotive. Vermutlich sind sich die Entführer sogar im Klaren darüber, dass Sebastian das alles versteht. Kluge Menschen können offen zueinander sein. Sebastian beginnt zu lachen. Mit beiden Armen hält er die im Wind flatternde Kleidung am Leib, während er durch die Dämmerung zurück zum Rasthof geht.

6
    I n der Nähe der Essensausgabe gibt es keine Tische, sondern nur ein Kühlregal, in dem der immergleiche grüne Apfel in vielfacher Wiederholung glänzt. Penibel wie ein Landvermesser überschlägt Sebastian die Abstände, bis er sicher sein kann, welcher Sitzplatz der nächste zur Theke ist. Er wählt einen Stuhl neben einer mannshohen Pflanze, die bei näherer Betrachtung aus Plastik und damit aus einer Unmenge von Pflanzen besteht. Das Gewicht der Erde hat sie über Jahrmillionen zu einer schmierigen Substanz zerquetscht, bis der Mensch weit genug entwickelt war, um sie heraufzuholen und künstliche Zweige und Blätter daraus zu pressen. Die chemischen Ausdünstungen riechen so intensiv nach Absurdität, dass Sebastian regelrecht übel davon wird. Er pfeift seine Gedanken zurück wie ein Rudel tollender Hunde und steht noch einmal auf, um das befohlene Bier und eine Zeitschrift zu kaufen.
    Das Restaurant ist rundum verglast. Von außen drückt die Dämmerung ihre Haut gegen die Scheiben. Drei Tische weiter isst ein Mann im Anzug etwas Braunes mit Soße, betupft sich nach jedem Bissen die Lippen und dreht das Handgelenk, um auf seine Armbanduhr zu sehen. Hinter der nächsten Topfpflanze tippt die junge Frau im rosafarbenen Mantel mit beiden Daumen einen langen Text in ihr Handy. Allen Gästen ist anzusehen, dass irgendwo vor der Tür ein Auto auf sie wartet. Ohne Wagen ist Sebastian ein Schiffbrüchiger unter Kapitänen und muss jeden Moment damit rechnen, an seinem umherirrenden Blick erkannt zu werden. Die Frau lächelt, als ihr Handy piepst. Vielleicht wartet sie auf einen Geliebten, mit dem sie auf den Rastplatzmöbeln ihren Mann betrügen will. Vielleicht nennt sie sich dabei Vera Wagenfort. Merkwürdigerweise wäre Sebastian das inzwischen vollkommen egal.
    Den ersten Schluck Bier spürt er als dumpfes Ziehen in Armen und Beinen. Weil der Schock nachlässt, ist auch die Phase der Erkenntnis vorbei. Sebastian muss einsehen, dass er im Irrtum war, als er geglaubt hat, die Bedeutung seiner Lage genau zu erfassen. Wenn es in der Physik darum geht, die Grenzen des Erfahrbaren zu überschreiten, ersetzt die Mathematik das Vorstellungsvermögen. Aber der Satz »Dabbeling muss weg« lässt sich in keiner mathematischen Formel zusammenfassen und bleibt deshalb außerhalb der Reichweite seines Verstandes. Das hat Konsequenzen. Bislang hat Sebastian nach vorn geschaut und geglaubt, seine Zukunft wie ein offenes Feld zu überblicken. Ab heute wird er auf seine Füße sehen. Seine neue Welt ist das kleine Stück Erde unter dem nächsten Schritt. Er wird nicht mehr gehetzt über Autobahnauffahrten laufen. Die Täter wird er nicht einmal in Gedanken zu orten versuchen. Stattdessen wird er einfach tun, was man von ihm verlangt. Möglichst sauber. Chirurgisch. Seine Erpresser haben ihn ausgewählt, weil sie sich einen leistungsstarken Auftragnehmer wünschen. Sebastian wird alles daransetzen, sie nicht zu enttäuschen. Beherzt schlägt er das Inhaltsverzeichnis seiner Zeitschrift auf.
    Als die Uhr über der Theke halb elf zeigt, besteht die Batterieanzeige seines Handys nur noch aus einem schmalen Strich. Kaum hat er das Gerät in die Hand genommen, bringt ein Klingeln die Luft zum Vibrieren. Aufgestört rennen Tische und Stühle durcheinander und springen in ihre Ausgangspositionen zurück, als die Frau im rosafarbenen Mantel ihr Telefon an die Wange drückt. Nickend und redend steht sie auf und verlässt das Restaurant. Während Sebastian ihr nachblickt, klingelt es wieder. Den Schreck kann er auf die Schnelle nicht wiederbeleben.
    »Hallo?«
    »Sebastian, du glaubst nicht, wie schön es hier ist!«
    Seit er im Restaurant sitzt, hat er gedacht, das scharfkantige Wesen in seiner Magengrube sei mit erstaunlich wenig Gezappel gestorben. Aber Maikes Stimme bringt den Schmerz zurück. Zwischen

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