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Schilf

Schilf

Titel: Schilf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juli Zeh
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erklärt der Mörder in gemächlichen Schnitten seinem letzten Opfer den Sinn der bisherigen Handlung. Es folgt das hektische Flackern eines Handgemenges, das schließlich von den bunten Blitzen einer Werbepause unterbrochen wird. Sebastian glaubt zu wissen, wer der Täter ist.
    Ab und zu verlagert er das Gewicht und streckt die Knie, um im entscheidenden Moment nicht auf tauben Beinen über die Einfahrt zu stolpern. In erstaunlichem Tempo überquert eine Schnecke das Blatt des Spatens, den Sebastian im Schuppen gefunden hat. Jedes Mal, wenn sein Blick auf das Werkzeug fällt, scheint es ein Stück weiter entfernt zu liegen, und jedes Mal zieht er es ein bisschen näher zu sich heran.
    An den langen Einstellungen in blassen Farben erkennt Sebastian, dass die Nachbarn inzwischen bei den Spätnachrichten sind. Die Türen und Fenster an Dabbelings Haus sehen aus wie aufgemalt. Gerade beginnt Sebastian zu zweifeln, ob der Oberarzt jemals an diesen Ort zurückkehren wird, als der Garten in Aufregung gerät. Die Scheinwerfer eines Autos reißen eine Handvoll Bäume an sich und schleudern sie gleich darauf zurück in die Dunkelheit. Schattenpartisanen huschen über das Gras. Der Zaun neigt sich nach links, der Kranich dreht sich um sich selbst. Sebastian hat die Beine unter den Leib gezogen und kauert in der Haltung eines Sprinters, drei Finger jeder Hand in den Kies gestemmt. Das Gittertor gleitet zur Seite. Der Wagen rollt bis auf wenige Zentimeter an die Hauswand heran. Die Handbremse seufzt, die Scheinwerfer verlöschen. Zwischen den Mülltonnen hindurch kann Sebastian beobachten, wie Dabbeling aussteigt, theatralisch gähnend die Ellenbogen reckt und sich abwendet, um seine Tasche von der Rückbank zu nehmen. Keine unvorhergesehene Dame schält sich aus dem Beifahrersitz; kein später Spaziergänger geht am Tor vorbei. Dabbeling kommt allein.
    Im Grunde ist Sebastian ein schwacher Mensch. Bekannte und Kollegen würden ihm vielleicht einen starken Willen bescheinigen, aber eigentlich, denkt Sebastian, während er Dabbeling zusieht, ist doch gerade ein starker Wille das Markenzeichen des schwachen Menschen. Denn als solcher muss er ständig etwas wollen. Er muss wirken und werken, probieren und trainieren, derweil dem Starken alles wie von selbst gelingt. An manchen Tagen braucht er schon Kraft, um nur auf einer Bank am Ufer der Dreisam zu sitzen und das gerade aktuelle Stück Fluss zu betrachten. Wie viel mehr ist nötig, um die Hand auszustrecken und den Stiel eines Spatens zu fassen! Sebastian setzt die Schnecke behutsam in den Kies, bevor er sein Werkzeug vom Boden hebt.
    Dabbeling war so freundlich, zum Standbild zu erstarren, bis Sebastian mit seinen Überlegungen fertig geworden ist. Das Geräusch der eigenen Schritte klingt ihm fremd in den Ohren, als spränge da ein anderer mit langen Sätzen über die Einfahrt, ein Mann, dem Sebastian von nun an als unsichtbarer Beobachter zu folgen verpflichtet ist. Auch der Oberarzt hat das Knirschen gehört. Er richtet sich auf; verständnislos schaut er Sebastian entgegen. Der Spaten fährt hoch, der Hieb tönt dumpf. Dabbeling strafft den Rücken, statt zu fallen, und zeigt eine überraschend gelassene Miene. Sebastian gewinnt Abstand, um erneut auszuholen, dreht die Kante des Spatenblatts nach unten und schlägt sie seinem Opfer mit voller Wucht auf den Kopf. Sogleich ist alles Menschliche aus Dabbelings Gesicht verschwunden. Es riecht nach aufgeschürften Knien, süßlich und nach Eisen. Fünfstimmig klackt die Zentralverriegelung, als sich die Hand des Oberarztes um den Schlüssel krampft. Dabbeling bricht ein, fängt sich, wankt und hält sich mit abrutschenden Fingern an seinem Wagen fest. Der nächste Schlag bringt Arme und Beine zum Zappeln wie unter elektrischem Strom. Trotzdem weigert sich der Körper, zu Boden zu gehen. Er torkelt zur Seite, Sebastian schlägt ins Leere, und ehe er begreift, was geschieht, beginnt Dabbeling zu rennen. Blind, vielleicht sogar kopflos streift er eine Tanne, prallt gegen den Zaun und schafft es, die Hände um die Gitterstäbe zu schließen. Er wuchtet den Leib in die Höhe, wälzt sich auf die andere Seite und stürzt in eine bodenlose Dunkelheit. Grell flackern die Fernseher. Sebastian hört Schreie, Schüsse und das nervöse Wimmern amerikanischer Polizeisirenen. Die Lichtreflexe erreichen den Vorgarten, wandern über die Fassade. Ihr Zucken wird zu einem regelmäßigen Takt und geht in das Kreisen eines näher kommenden

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