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Schilf

Schilf

Titel: Schilf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juli Zeh
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erklimmt. Er kann sich ganz darauf konzentrieren, nicht über Wurzeln zu stürzen, die Krallen der Brombeeren mit Vorsicht aus den Ärmeln zu lösen und der Müdigkeit standzuhalten, die ihn dazu verleiten will, sich auf den kühlen Boden zu legen und in aller Ruhe dem Tag beim Anbrechen zuzusehen.
    Als er den Waldrand erreicht, hat sich die Nacht bereits zwischen die Baumstämme zurückgezogen. Auf der weiten, grasbewachsenen Senke, die hoch oben von der Schauinslandstraße gesäumt wird, herrscht Dämmerlicht. Eine Kuh hebt den Kopf und widmet sich, weil Sebastian einen Finger an die Lippen legt, wieder ihrer Dauermahlzeit. Er steigt durch den Stacheldraht und hält respektvollen Abstand zu den Tieren. Gerade hat er die Weide auf diagonaler Linie durchquert und dringt in das gegenüberliegende Gehölz ein, als sich der Sonnenscheitel in der Kerbe zwischen zwei Bergkuppen zeigt. Die glasklare Luft schärft jedem Ding die Kontur. Baum für Baum ein Individuum, jeder Kiesel ein Requisit am rechten Ort. In flachem Winkel stecken Lanzen aus Licht im Boden. Wo Platz ist, wächst Gras. Insekten wirbeln über sonnigen Flecken. Irgendwo erklingen die Werkstattgeräusche eines Spechts. Um diese Zeit gehört die Schöpfung den Tieren, und jeder Mensch ist wie der erste oder letzte auf Erden.
    Bei der Generalprobe, die nicht länger als drei Stunden zurückliegt, ist Sebastian die Strecke schon einmal gegangen. Aber auch die Geländekenntnis macht das letzte Stück nicht weniger beschwerlich. Tote Äste bilden ein Stolpergitter, dichtes Unterholz zwingt zu Umwegen, und an den steilsten Abschnitten muss Sebastian die Hände zu Hilfe nehmen. Nach fünfhundert Metern ist er nass geschwitzt und setzt sich zum Ausruhen auf einen Baumstumpf. Kaum hat er die Jacke ausgezogen und um die Hüften gebunden, lassen sich Mücken auf seinen Armen nieder, drei auf dem rechten, sieben auf dem linken. Er schlägt das Geschwader tot; es wird sofort ersetzt. Ganze Hundertschaften umtanzen ihn, suchen nach den besten Stellen, landen und tauchen die Rüssel in seine Haut. Nur Weibchen beißen, hat Oskar einmal am Ufer des Genfer Sees zu ihm gesagt. Weibchen kämpfen, fressen und stechen. Deshalb heißt es die Ameise, die Wespe, die Mücke. – Zwischen den Handflächen zerreibt Sebastian die kleinen Leichen, vermischt mit dem eigenen Blut.
    Wenn er den Kopf in den Nacken legt, kann er hangaufwärts bereits die Straßenböschung sehen. Von ferne raunen zwei Windräder, deren behäbige Rotoren sich oberhalb der Holzschlägermatte mit Blick über ganz Freiburg drehen. Flüsternd zieht eine Pfadfindergruppe durch den Wald, trägt Kochgeschirr und Klappspaten auf den schmalen Rücken und sammelt sich am Rand einer Lichtung, die zweihundert Kilometer weiter östlich liegt, weshalb Sebastian von diesem Vorgang nichts mitbekommt.
    Dafür stört ihn, während er einen Schluck totes Wasser nimmt, eine Bewegung im rechten Augenwinkel: Es raschelt im Farn. Etwas Großes kommt näher. Sebastian springt auf. Seine überreizten Nerven senden Bilder von Braunbären. Vorschläge für eine angemessene Reaktion folgen nicht. Er sieht zu, wie sich eine Gestalt im Farn aufrichtet, jedoch nicht zur bedrohlichen Masse eines Bären anschwillt, sondern nur die kompakten Formen eines kleinen Mannes erreicht. Dem Alter nach könnte er Sebastians Vater sein. Das Gesicht liegt im Schatten eines Schlapphuts, unter dessen Krempe die Augen unruhig umherwandern. Es dauert eine Weile, bis Sebastian die Erscheinung vollständig erfasst. Der Mann ist am ganzen Körper mit Gerätschaften behängt. Ein Käscher überragt die rechte Schulter, zwei Kameras baumeln an der linken, in der Armbeuge trägt er einen lampionförmigen Käfig, in der Hand ein Schmetterlingsnetz. Unermüdlich spitzt und dehnt er die Lippen und wendet dabei den Kopf hin und her, als wollte er alles, was sich dem Auge bietet, mit kleinen Luftküssen begrüßen. Schließlich breitet er die Arme aus, als wäre ihm eingefallen, dass er Sebastian an diesem Ort erwartet hat.
    »Sohn!«, ruft er mit rundem O. »Seltene Gesellschaft zu dieser Stunde. Ein guter Tag. Schau.«
    Die Gummistiefel schlackern ihm um die Waden, während er mit hochgezogenen Knien wie durch Wasser watet.
    »Die Besten sind immer am schwersten zu fassen. Sie bevorzugen das Alleinsein, den Schatten, die unchristliche Zeit. Und halten der Welt eine Maske hin, oder besser: ein Zweitgesicht.«
    Das Schmetterlingsnetz fällt zu Boden. Der Alte hält

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