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Schilf

Schilf

Titel: Schilf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juli Zeh
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absolutes Nichts.
    Das destillierte Wasser zum Bügeln hat seine Mutter stets hoch oben im Regal der Wäschekammer verwahrt. Wenn du davon trinkst, kriecht das tote Wasser in deine Zellen, bläht sie auf und bringt dich zum Platzen. Ein kühler Hauch berührt Sebastians Nacken. Dabbelings Rennmaschine steht im Unterstand vor dem Radsportclub. Die beiden Trinkflaschen hängen am Sattelstützrohr.
    Wurde Oskar an der Universität nach seiner Methode gefragt, erwiderte er, dass die Kunst des Denkens nicht darin bestehe, Antworten zu erfinden, sondern darin, sie den Fragen abzulauschen. Vielleicht, denkt Sebastian, ist auch der Mensch ein Problem, das seine Lösung in sich trägt. Vielleicht ist es das, was die Geisteswissenschaftler Schicksal nennen. Eine Körpermaschine wie Dabbeling muss beim Radfahren sterben.
    Während sich Sebastian im Arbeitszimmer über die Tastatur des Computers beugt, kann er nicht aufhören, an Oskar zu denken. Oskar in der ganzen Pracht seiner Unerschütterlichkeit. Wahrscheinlich hätte auch er keinen rettenden Ausweg parat, aber er wüsste, auf welche Weise man sich geistig über das Geschehen erheben könnte. Flüchtig schämt sich Sebastian dafür, dass er jetzt ausgerechnet nach Oskars Beistand verlangt. Dann hat er im Internet den entsprechenden Artikel gefunden. Entgegen einer weitverbreiteten Auffassung ist der Konsum von destilliertem Wasser unschädlich. Nach Meinung mancher Gesundheitsfreunde ist es wegen seiner Sterilität sogar gesund. Sebastian liest den Beitrag wie sein eigenes Todesurteil.
    Gleich darauf sitzt er wieder am Küchentisch, und der Kopf kippt ihm in die Hände. Er ist Physiker, kein Chemiker. Erst recht kein Krimineller; vermutlich nicht einmal pragmatisch veranlagt. Seine Auftraggeber haben sich in ihm getäuscht. Für eine haltlose halbe Stunde stürzt er ins Konjunktivische einer alternativen Vergangenheit. Wäre er nicht so versessen auf ein paar Wochen ungestörter Arbeit gewesen. Hätte er sich nicht in nutzlosen Theorien verrannt. Hätte er nur seine Zeit mit Maike und Liam vollauf genutzt und ihr alles Glück abgerungen! Nun wird er für diese Missachtung bestraft.
    Die gekrümmte Haltung bleibt der Wirbelsäule schmerzhaft im Gedächtnis, als er aufsteht, um ein Glas aus dem Schrank zu nehmen. Die Abwesenheit von Geschmack macht das destillierte Wasser zu einem flüssigen Kadaver. Sebastian überwindet den Ekel und trinkt. Nach dem zweiten Glas kann er weinen. Er trinkt ein drittes, und die Tränen fließen ihm in den Kragen. Durch die offene Balkontür erklingt Geschirrklappern aus der Wohnung unter ihm und markiert die Grenze, hinter der fremder Alltag unerbittlich seinen Fortgang nimmt. Wenn es in seiner Macht stünde, würde Sebastian die klirrenden Teller samt der Hände, die sie stapeln, das Zwitschern der Vögel und das entfernte Brummen von Automotoren und überhaupt die ganze helle, possenreißende Welt da draußen mit einem Schlag zum Verstummen bringen.
    Während er reglos steht, die feuchten Wangen an der Luft trocknen lässt und den kurzen Frieden nach seinem Ausbruch genießt, fördert sein erschöpftes Gehirn ein weiteres Zitat von Oskar zutage. Für dich, mein emsiger Freund, ist Denken pure Fleißarbeit. Genial ist eine Lösung, die, kaum geboren, als offensichtlich gilt.
    Sebastian verlässt die Wohnung und steigt die Treppe hinunter in den Keller, wo das selten genutzte Werkzeug lagert.

3
    D er Weckruf des Handys wäre beim besten Willen nicht nötig gewesen. Sebastian hat die Zeiger der Uhr im Armaturenbrett ohnehin nicht aus den Augen gelassen. Der Volvo parkt in einem Forstweg. Dunkelheit verdichtet die gelangweilten Kiefern zu Mauern. Wenn Sebastian sich vorbeugt, kann er an einem schmalen Stück Himmel die Deichsel des Großen Wagens sehen. Schon immer war er der Meinung, dass man dieses Sternbild bei Gelegenheit durch ein neues, interessanteres ersetzen müsste. Als er die Fahrertür öffnet, schlägt ihm der Geruch des Waldbodens entgegen: Pflanzen, die ihre Nahrung aus den fauligen Resten vergangener Generationen saugen. Sein Fuß trifft auf federnden Untergrund, eine Berührung, die einleuchtet und aus der sich ganz selbstverständlich die nächste Bewegung ergibt. Sebastian holt den Rucksack aus dem Kofferraum und macht sich auf den Weg.
    Ein Wald hält sämtliche Vorgänge, die sich in ihm abspielen, für normal. Sebastian kommt sich nicht komisch vor, nur weil er um halb vier Uhr morgens abseits der Straße einen Berg

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