Schilf
Sebastian hinter dem letzten Baum am Rand der Senke und starrt so angestrengt zum Anfang der Kurve hinüber, dass ihm die Farben vor Augen verschwimmen. Vor lauter Konzentration wäre ihm um ein Haar der Moment entgangen, in dem Dabbelings gelbes Hemd in der Ferne zwischen den Stämmen zu flimmern beginnt. Der Oberarzt ist schnell. Bei diesem Tempo wird er Sebastian kaum eine Minute lassen, um in Deckung zu gehen. In wenigen Sätzen erreicht Sebastian das Seil und spannt es bis zum äußersten Widerstand. Dann stolpert er die Böschung hinunter, mühsam seine Beine im Zaum haltend, die der Schwerkraft nachgeben und immer weiter laufen wollen, durch den Wald und über die Kuhweide, um endlich ins Auto zu springen. Sebastian zwingt sich zum Anhalten, legt sich auf den Boden und faltet die Hände über dem Kopf, als stünde eine Sprengung bevor.
Das Schöne an der Zeit ist, dass sie ohne Hilfestellung vergeht und sich nicht an dem stört, was in ihr geschieht. Auch die nächste Handvoll Sekunden wird sich vom Acker machen, und schon ist das, was eben noch unmöglich erschien, vergangen und vorbei. Warten ist nicht schwer. Das Leben besteht aus Warten. Folglich, beschließt Sebastian, ist das Leben kinderleicht.
Das Zischen der Reifen kommt heran, wird lauter, höher, will rasch weiter. Bevor es gemäß dem Dopplereffekt im Vorbeiflitzen die Tonhöhe senken kann, wird es von einem feuchten Hacken unterbrochen. Zugleich erklingt eine menschliche Stimme, die erste Silbe eines nicht zu Ende gebrachten Wortes. »Wa–«
Hartes durchdringt Weiches. Anschließend ein kurioser Augenblick der Stille, dann trifft Metall mit protestierendem Kreischen auf die Fahrbahn. Ein Aufprall, das Rutschen eines schweren Körpers. Gestänge schlagen mehrmals auf die Straße, kleine Einzelteile klimpern in alle Richtungen auseinander. Ein Gegenstand plumpst in die Böschung, hüpft und kollert, als liefe ein Tier mit großen Sprüngen davon.
Danach herrscht Schweigen. Etwas ist in den jungen Tag gestürzt und rasch gesunken; die konzentrischen Wellen haben sich zerstreut; glatt und spiegelnd und undurchdringlich liegt die Zeitoberfläche im Morgenlicht. Ungerührt nimmt die Vogelphilharmonie ihr unterbrochenes Konzert wieder auf. Sebastian sieht hoch. Die Farbe des Lichts ist unverändert, ein leichter Wind streicht routiniert durch die Blätter. So unkompliziert tritt ein Mann aus der Welt, ein Tor aus Bäumen, ein bisschen Lärm, gleich darauf ist alles wie zuvor. Fast hat es Spaß gemacht, so wie Dinge Spaß machen, die mit wenig Aufwand große Wirkung zeitigen. Gut, dass es um Dabbeling ging und nicht um einen netteren als ihn. Das Ganze war eine erstklassige Idee, denkt Sebastian und wird von diesen Gedanken so heftig in der Kehle gewürgt, dass er vornübergebeugt darauf wartet, sich übergeben zu müssen.
Beim erneuten Aufstieg zur Straße taumelt er wie betrunken. Alle Kontrolle ist aus seinen Gliedern gewichen. Das war sie, seine einzige Chance; er will nur noch weg. Die nachlassende Anspannung macht ihn zu einem wehrlosen Opfer der Müdigkeit. Kaum dass es ihn noch interessiert, ob das Seil wirklich Dabbeling erwischt hat und wie sehr. Allein der Anstand verlangt, die Falle zu entfernen. Das glaubt Sebastian der Menschheit schuldig zu sein, auch wenn er nicht weiß, wofür.
Knapp siebzig Stundenkilometer tragen einen ungebremsten Körper weit hinaus, am besten bis hinter die nächste Kurve oder gleich bis in die Stadt, denkt Sebastian und meint, gegen jede Sorte Anblick gewappnet zu sein. Als er aber auf der Straße steht, presst er wie ein schlechter Schauspieler die Hand aufs Herz. Was er sieht, übersteigt trotz aller Vorbereitung sein Fassungsvermögen.
Da ist nichts. Nur Asphalt, den die Sonne wärmt, überzogen mit den Jugendstilmustern der Blätterschatten. Die Geschwindigkeit hat den Schauplatz ihres Wirkens sauber geräumt; noch die letzte Schraube ist ins Unterholz entkommen. Das Stahlseil glänzt wie eine gespannte Gitarrenseite und zeigt als einzige Veränderung links von der Mitte einen dunklen Fleck. Sebastian lockert die Spannhebel, löst die Verschlusshaken und beschmiert sich beim Aufrollen des Seils mit frischem Rot. Die Haut unter den Handschuhen ist aufgedunsen wie nach zu langem Duschen. Mit letzter Kraft packt er seinen Rucksack.
5
W enige Menschen beherrschen die Kunst, sich vor den richtigen Dingen zu fürchten. Manch einer steigt auf wackligen Knien ins Flugzeug; eine Klappleiter hingegen erklimmt er
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