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Schilf

Schilf

Titel: Schilf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juli Zeh
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Blaulichts über. Es riecht nach frisch geschnittenem Gras.

2
    S ebastian presst die Handballen auf die Augen: So geht das nicht. Statt einen Mordplan zu entwerfen, dreht seine Einbildungskraft drittklassige Horrorfilme. An der Spüle wäscht er sich das Gesicht und greift nach einem Küchentuch, das, von Maikes Weichspüler imprägniert, die Feuchtigkeit nicht aufsaugt, sondern nur auf der Haut verteilt. Dann steht er still, um dem Kühlschrank zu lauschen, dessen Geräusch mit viel Phantasie nach der Brandung eines entfernten Ozeans klingt.
    Wider Erwarten hat er in der Nacht zwei Stunden geschlafen und ist erst vom Läuten der Türklingel erwacht. Im Hausflur stand Dabbeling im gelben Trikot und bat mit unheimlicher Freundlichkeit um eine Geflügelschere. Schreiend fuhr Sebastian auf und fand sich nass geschwitzt im Bett. Er ließ sich zurücksinken, schloss die Augen und bemühte sich, die Erinnerung an den vergangenen Tag möglichst langsam ins Bewusstsein sickern zu lassen. In der Mitte seines Körpers arbeitete ein Strudel, ein Zentrum starker Gravitation. Das war die Angst. Staunend erkannte Sebastian, dass er sich vor allem fürchten konnte, vor dem Aufstehen genauso wie vor dem Liegenbleiben, vor der andauernden Nacht und dem bevorstehenden Tag. Am schrecklichsten war die Sorge, gerade durch diese Angst weiteres Unglück herbeizuzitieren. Liams Name machte alles unmöglich. Den Gedanken an seinen Sohn musste Sebastian unbedingt vermeiden. In einer geistigen Aufräumaktion unterwarf er die Dinge einer neuen Ordnung. Liam war nicht da, weil er sich im Pfadfinderlager befand. Sebastian würde die Abwesenheit seiner Familie nutzen, um einen Rivalen aus dem Weg zu räumen. Dieses Motiv hatte man für ihn vorgesehen, und er war gewillt, dem Konzept seiner Erpresser zu folgen. Im Gehorchen, so dachte er, lag seine Freiheit und damit die einzige Chance. Dass er sich damit einem weitverbreiteten Irrglauben anschloss, störte ihn nicht. Im Gegenteil, er fühlte sich besser.
    Als er die Augen aufschlug, stand ein Mann am Fußende des Betts. Sein Kopf steckte in einer Papiertüte. Beim Versuch zu fliehen verfingen sich Sebastians Füße im Laken. Er schlug sich die Stirn an der Kante des Kleiderschranks und erwachte vor laufendem Fernseher auf der Wohnzimmercouch. Der Bildschirm zeigte den großen Mund einer Frau, die eine tonlose Melodie sang. Mit tastenden Schritten ging Sebastian in der Wohnung umher. Die Möbel kauerten in einer dumpfen Stille, wie sie hinter verstopften Ohren im eigenen Kopf existiert. Misstrauisch befühlte er die Blätter einer Topfpflanze, wendete herumliegende Briefe, prüfte die Reihenfolge der Bücher im Regal und fand alles an seinem Platz. Auf dem Weg ins Bad bemerkte er durch die offene Schlafzimmertür eine ungewöhnliche Wölbung unter der Tagesdecke auf dem Bett. Leise nähertretend, musste er feststellen, dass sich der Haufen im Takt seiner eigenen Atemzüge hob und senkte. Er schlug die Decke zurück und blickte sich selbst ins Gesicht, die Augen aufgerissen, ein hässliches Grinsen auf den Lippen. Ein Ruck zerteilte Raum und Zeit, und Sebastian lag an der Stelle des Doppelgängers. Er grub sich alle zehn Finger ins Fleisch der Oberschenkel, schlug die flachen Hände gegen die Wand, bis sie schmerzten, erhob sich schließlich und zog die Vorhänge auf. Über den Dächern der Nachbarhäuser schimmerte ein grünlicher Streifen Helligkeit.
    Die Dusche änderte nichts an dem Eindruck, einmal zu wenig oder einmal zu oft erwacht zu sein, gefangen in einer Welt, die von verschobenen Gesetzen regiert wurde. Das Schlimmste war, dass es niemanden mehr gab, der ihm aus dieser Falle hätte heraushelfen können. Er durfte mit niemandem reden, niemanden fragen, ob er den vergangenen Tag vielleicht nur geträumt hatte. Oder ob er, im Gegenteil, an jenem Rasthof an der A 81 aus einem jahrzehntelangen Traum erwacht war. Die Wirklichkeit, dachte Sebastian, ist nicht mehr als ein Vertrag zwischen sechs Milliarden Parteien. Man hatte ihn gezwungen, diese Übereinkunft einseitig zu kündigen. Deshalb bot das Aufwachen am Morgen keine Garantien mehr. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als den neuen Tag ohne Echtheitszertifikat entgegenzunehmen.
    Kaltes Wasser brachte die Kraft in seine Glieder zurück. Mühsam verdrängte er den Wunsch, sogleich ins Arbeitszimmer zu laufen und sämtliche seiner theoretischen Aufzeichnungen zu vernichten, die ihm mit einem Mal als Teufelswerk erschienen, nur darauf

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