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Schilf

Schilf

Titel: Schilf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juli Zeh
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den Lampion vor Sebastians Gesicht. Unbeholfen nimmt dieser ihn in beide Hände. Durch die transparenten Wände blickt ihn eine phantastische Grimasse an. Kreisrunde Augen lassen das Weiße sehen. Eine breite Nase, dunkel schattierte Wangen und ein Maul mit rosafarbenen Lefzen erinnern an den Fang eines Raubtiers. Sebastian, der nicht sprechen könnte, selbst wenn er wüsste, was er sagen soll, fühlt sich vom starren Blick der Fratze auf unangenehme Weise durchschaut.
    »Aus der Familie der Schwärmer«, sagt der Schmetterlingssucher und klatscht sich auf den Oberschenkel, weniger aus Freude als wegen der Mücken. » Smerinthus ocellata , ein Prachtexemplar. Schauen Sie der Dame mal ins wahre Gesicht.«
    Als Sebastian den Käfig dreht, sieht er eine Miniatur-Gasmaske: gewölbte Facettenaugen und einen Rüssel. Aus den Seiten ragen gefiederte Fühler, winzigen Farnwedeln ähnlich. Der Schwärmer duldet nur einen kurzen Blick, bevor er in eine Ecke kriecht und die Flügel zusammenschiebt, um sich optisch in ein Stück Baumrinde zu verwandeln. Sebastian reicht den Lampion zurück.
    »So ist die Natur«, sagt der Schmetterlingssucher. »Ein Labyrinth aus Zerrbildern und Possen. Man führt einander an der Nase herum.«
    Zufrieden hängt er den Käfig wieder in die Armbeuge und hebt sein Werkzeug auf. Schon halb zum Gehen gewandt, schaut er Sebastian zum ersten Mal direkt in die Augen:
    »Und Sie?«
    Erst jetzt begreift Sebastian, wen er vor sich hat: jenen Zeugen, den es am Ende eines Mordfalls immer doch noch gibt. Statt Panik befällt ihn ein Lachreiz, den er mit Mühe unterdrückt. Ein Mord gehört zu den wenigen Dingen, von denen er absolut sicher war, dass er sie niemals tun würde. Durch die Anwesenheit eines neutralen Beobachters wird ihm die Absurdität seines Vorhabens plötzlich in vollem Umfang bewusst, und er begreift, dass er sich mit der Bedeutung der geplanten Tat noch gar nicht auseinandergesetzt hat. »Du sollst nicht töten« reicht nicht aus, um auf die Schnelle zu einem Urteil zu kommen, zumal man vergessen hat, dieser Regel den Ausnahmenkatalog beizufügen. Außerdem hat er schon für die Erwiderung auf eine viel einfachere Frage wenig Zeit.
    »Pilze«, sagt er und reibt verstohlen die Hände an der Hose, als ließe sich das Fehlen von Pilzmesser und Henkelkorb abwischen wie Schmutz. Amüsiert mustert der Schmetterlingssucher seine lückenhafte Ausrüstung.
    »Bisschen früh im Jahr.«
    »Wahrscheinlich habe ich deshalb keine gefunden.«
    Der kleine Mann nickt, anscheinend erfreut über die treffende Antwort. Er schwenkt den Schwärmer im Lampion zum Gruß und macht sich davon.
    Sebastian schultert den Rucksack und nimmt den restlichen Aufstieg in Angriff. Bald darauf kann er nicht mehr entscheiden, ob er dem Schmetterlingssucher tatsächlich begegnet ist. In seinem übermüdeten Hirn schieben sich Erinnerungen an die vergangenen vierzig Stunden und Gedanken an die bevorstehenden Minuten in Schichten übereinander. Wenn er die Augen schließt, sieht er ein katzenartiges Schwärmergesicht. Zerrbilder und Possen, denkt Sebastian.
    Als er in die Richtung blickt, in welche der kleine Mann verschwunden ist, sitzen überall Vögel in den Ästen. Sebastian sieht sie am Boden hocken, in den Büschen schaukeln. Je länger er hinsieht, desto zahlreicher werden sie. Buchfinken, Ringeltauben, Eichelhäher, Kleiber, Singdrosseln. Sebastian fragt sich, woher er ihre Namen kennt. Ob es sein kann, dass auch sie wissen, wie er heißt.

4
    A uf dem Fahrweg angelangt, findet er seine Markierungen mühelos wieder. Auch wenn eine Generalprobe ohne Hauptdarsteller ihren Zweck kaum erfüllt, hat er seine Sache ernst genommen. Gewissenhaft ist er die Straße abgeschritten, hat Entfernungen gepeilt, Sichtlinien geprüft, Steigung und Krümmung der Kurve geschätzt. Er hat Baumstämme untersucht und am Ende einen Rundgang durch die Umgebung unternommen. An die Holzschlägermatte erinnerte er sich durch seinen Ausflug mit Maike und Dabbeling. Damals hatten vor dem verwahrlosten Gasthaus glitzernde Pulks von Motorrädern gestanden. Radfahrer waren in Schwärmen den Berg hinaufgekrochen oder auf ihren Talfahrten mit singenden Reifen vorbeigerast.
    Die geeignete Stelle hat er gleich erkannt. Am oberen Rand der Senke verlässt die Straße den Wald und mündet in eine kilometerlange Abwärtskurve, bevor sie wieder zwischen den Bäumen verschwindet. Die Qualität des Belags erlaubt Geschwindigkeiten von mindestens sechzig

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