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Schilf

Schilf

Titel: Schilf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juli Zeh
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abzielend, Zeit und Raum und damit die Überlebensbedingungen der Vernunft durcheinanderzubringen. Um Punkt acht wählte er die Nummer des Pfadfinderlagers in Gwiggen und entschuldigte seinen Sohn wegen einer plötzlichen Grippe. Ein Mädchen wies in österreichischem Tonfall darauf hin, dass die geleistete Anzahlung für Liam nicht erstattet werden könne. Sebastian schrie nicht und heulte nicht, sondern sagte einfach »Auf Wiedersehen«.
    Nach diesem Erfolg entschied er, sich als Nächstes um den beschädigten Volvo zu kümmern. Er brauchte ein zuverlässiges Fahrzeug, und es war angenehm, sich erst einmal mit einer weiteren alltäglichen Frage beschäftigen zu können. Also fuhr er in die Stadt, vorbei an den Kulissen eines perfekt inszenierten Montagmorgens, an jungen Männern, die im Anzug und mit Aktentasche auf dem Gepäckträger durch die Straßen radelten und sich angestrengt über das gute Wetter freuten. Unterwegs beschloss er drei Prinzipien für das weitere Vorgehen. Maximal vierundzwanzig Stunden für die Planung. Ebenso viele für die Ausführung. Hundertprozentige Erfolgsgarantie.
    Natürlich würde es auch darum gehen, möglichst wenig Spuren zu hinterlassen, aber das stellte bloß eine vage Chance dar, keine notwendige Bedingung.
    Ein Mechaniker mit Pferdeschwanz und Nickelbrille zupfte an den heraushängenden Zündkabeln und gratulierte Sebastian zu dem Glück, überhaupt noch ein Auto zu besitzen. Die Frage nach Glück oder Unglück ließ dieser offen und versprach, in einer Stunde wiederzukommen. Am Stehtisch einer Bäckerei trank er Kaffee. Im Radio lief ein Bericht über neue Reformpläne der Regierung. Die Bäckerin verkaufte Brötchen, die Namen von Fitnessprodukten trugen, und diskutierte mit ihren Kunden den bevorstehenden Weltuntergang. Der einzige Vorteil an Sebastians Lage bestand darin, dass ihn das alles nichts mehr anging. Er zahlte. Seinen Wagen erhielt er repariert und, dank einer Aktionswoche der Werkstatt, vollgereinigt zurück. Selbst der Kofferraum war gesaugt.
    Jetzt zeigt die Uhr kurz nach zwölf. Sebastian hängt das Küchentuch an den Haken und geht zur Balkontür. Die Sonne ist über den Dachfirst des Hauses gestiegen und zeichnet ein Lichtquadrat zwischen die Baumstämme im Hinterhof. Eine Katze flaniert über die Pflastersteine, fällt um und streckt ein Bein in die Höhe, um sich zu putzen. Die Szenerie ist einfach und klar; der Ausflug in die Stadt hat Sebastian gut getan. Trotzdem ist er seinem Ziel, einen sauberen Plan zu fassen, kein Stück näher gekommen. Jeder Versuch, Dabbeling im Geiste zu Leibe zu rücken, endet in einem Fiasko. Wenigstens empfindet er beim Gedanken an den Oberarzt kein Mitleid, sondern Hass. Es kommt ihm vor, als trüge jener auf geheime Weise die Schuld an allem. Sebastian hütet sich, einen so nützlichen Irrtum moralisch zu bekämpfen. Auch über die Tatsache, dass Dabbeling weder Frau noch Kinder hat, freut er sich nicht aus Menschenliebe, sondern aus logistischen Gründen.
    Zum dritten Mal zieht er sämtliche Küchenschubladen auf und öffnet auch das Schränkchen unter der Spüle.
    Brotmesser und Schaschlikspieße. Korkenzieher, Kartoffelstampfer. Ein Hammer.
    Obwohl Sebastian bewusst ist, dass Menschen gerne töten, hat er den Vorgang nie für einfach gehalten. Er kann sich schon über einen Fernsehfilm ärgern, in dem eine verstörte Frau nach der heruntergefallenen Pistole greift und ihren Angreifer, ungeachtet des Rückstoßes und fehlender Waffenkenntnis, mit einem sauberen Kopfschuss erledigt. In Sebastians Vorstellung können normale Leute vielleicht schießen, aber nicht treffen. Normale Leute halten täglich eine Vielzahl möglicher Tatwerkzeuge in Händen, Paketschnur, Plastiktüten, Nudelholz, noch mehr Schaschlikspieße (wurden die eigentlich jemals gebraucht?), und wüssten sie dennoch nicht todbringend einzusetzen.
    Spiritus. Insektenvertilger.
    Sebastian erwägt ernsthaft, einen Fachmann zu Rate zu ziehen. Für einen Anästhesisten wäre es einfach, das Notwendige zu beschaffen. Man könnte Dabbeling anrufen und ihm eine dramatische Geschichte auftischen. Sie würden sich bei ihm zu Hause zur Übergabe der Mittel treffen. Sie würden mit Rotwein anstoßen. Mit etwas Glück sähe es nach Selbstmord aus.
    Kuchengabeln. Klebeband. Die Geflügelschere.
    Ganz hinten steht eine alte Flasche ohne Etikett, bis zum Rand mit einer durchsichtigen Flüssigkeit gefüllt. Sebastian öffnet sie und riecht daran. Nichts. Ein auffälliges,

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