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Schilf

Schilf

Titel: Schilf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juli Zeh
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Stundenkilometern. Ein Radfahrer, der aus der gleißenden Sonne ins Zwielicht unter dem Blätterdach taucht, muss für die nächsten hundert Meter fast blind sein. Sebastian hat zwei Bäume ausgesucht, die sich links und rechts der Straße wie Torpfosten gegenüberstehen, und auf genau berechneter Höhe Kerben in die Rinde geschnitten, eben jene Markierungen, die er jetzt mit unruhigen Fingern betastet.
    Ein paar Meter den Hang hinauf findet er einen Platz, von dem er ungesehen die Straße im Auge behalten kann. Dort setzt er sich auf die Erde, packt den Rucksack aus, streift ein Paar Plastikhandschuhe über, die er dem Verbandskasten seines Autos entnommen hat, und legt sein Werkzeug in erprobter Ordnung bereit. Bis hierher konnte er planen; über den nächsten Schritt hat er keine Kontrolle. Entweder trainiert Dabbeling am frühen Dienstagmorgen – oder nicht. Wenn nicht, wird Sebastian am Mittwoch wiederkommen, am Donnerstag und so fort, bis in alle Ewigkeit. Genauer gesagt, bis man ihn abholt und in ein Irrenhaus oder ins Gefängnis steckt.
    Die steigende Sonne bestreut seine Schultern mit zitternden Münzen. Im Gestrüpp hat sich etwas Nachtluft verfangen und kühlt Stirn und Nacken. Trotzdem sammelt sich Feuchtigkeit in den Fingerspitzen der Plastikhandschuhe, die Sebastian nicht abzustreifen wagt. Sein schneller Herzschlag verdoppelt die Länge jeder Sekunde. Eine halbe Stunde verstreicht, ohne dass Nennenswertes geschieht. Zwischen seinen Füßen nimmt das Knistern und Krabbeln zu. Ameisen sind mit dem Zersägen einer Raupe beschäftigt und tragen bleiche Stücke zum Eingang ihres Baus. Sebastian genießt es, dem Schalten und Walten eines ganzen Staates zuzusehen, der sich für die Belange der Großen nicht im Mindesten interessiert. Aus Sicht der Ameisen muss Sebastians Treiben ebenso surreal wirken wie die Bewegungen der Sterne aus Sicht der Menschen. Gern würde er einen Aufnahmeantrag bei den Ameisen stellen. Er würde seine Pflichten zuverlässig erfüllen und nicht aus der Reihe tanzen. Er wäre kein unberechenbarer Einzelgänger, sondern einer aus der Mitte, ein Rädchen im Getriebe des Systems.
    Aufschauend begegnet er dem Blick eines rundlichen Vogels, der ebenfalls auf etwas zu warten scheint. Ein Gimpel, denkt Sebastian. Plötzlich schüttelt sich der Vogel und fliegt davon. Vielleicht hat ihn das Surren aufgeschreckt. Nun hört es auch Sebastian: Gummi auf Asphalt. Sonst nichts. Kein menschlicher Laut, kein Schaben von gequältem Metall. Profis verursachen wenig Geräusche.
    Ein gelber Rücken arbeitet sich die Straße hinauf. Leicht schwankt das Rennrad im Takt der Pedaltritte, angespannt kämpfen lange Gliedmaßen gegen die Gravitation. Obwohl der Mann nur wenige Meter unter Sebastian vorbeifährt, ist das gesenkte Gesicht nicht zu erkennen; es wird von einem weißen Plastikhelm verdeckt. Die Wahrscheinlichkeit, dass es sich um Dabbeling handelt, beziffert Sebastian mit achtzig Prozent. Dem Wissenschaftler ist das Fehlen vollkommener Gewissheit als ein natürlicher Zustand vertraut. Durch die Bäume verfolgt er, wie der Radfahrer das Gasthaus passiert und sich durch die weitgeschwungene Kurve aufwärts arbeitet. Als er außer Sichtweite ist, rührt Sebastian keinen Finger, bis weitere zehn Minuten verstrichen sind. Dann entlädt sich die erzwungene Ruhe in einem Rausch von Bewegungen.
    Die Gerätschaften in beiden Armen, rennt er zur Straße hinunter. Er entrollt das Stahlseil, schlingt es um den ersten Baum und führt das Ende durch die Ösen der Spannvorrichtung. Der Greifzug findet Halt; ein paarmal betätigt Sebastian probeweise den Hebel. Das satte Ratschen beruhigt seine Nerven. Während er das Seil über die Fahrbahn führt, um den zweiten Baum eine weitere Schlinge legt, den Haken einfädelt und dichtholt, folgen seine Gedanken Dabbelings Aufstieg zum Gipfel. Jetzt nimmt er die steilste Stelle, jetzt geht er in die letzte Kurve. Gemeinsam spüren sie das Pulsieren des Bluts unter der Haut; beiden rinnt Schweiß in die Augen; sie arbeiten zusammen an einer Aufgabe, die sie aufs Engste miteinander verbindet. Dabbeling erreicht die verwaschene Ziellinie am Ende der Auffahrt. Vielleicht prüft er seine Zeit, zieht eine Jacke über und gönnt sich einen Siegerblick ins Tal, dem er aus bloßer Körperkraft in 35 Minuten entkommen ist. Vielleicht stemmt er auch einfach die Füße auf den Boden, dreht das Rad herum und wirft sich der Abwärtsfahrt entgegen.
    Mit fliegendem Atem steht

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