Schilf
ohne Bedenken, um die Glühbirne im Badezimmer zu wechseln. Fällt ein Vogel tot vom Himmel, glauben die Menschen an den Weltuntergang. Und tritt die wahre Tragödie ein, die niemals eine allgemeine, sondern immer persönlich ist, nehmen sie schon an, schlimmer könne es nicht mehr kommen, während der eigentliche Schrecken noch bevorsteht. Im dunklen Schacht des Elends sitzen sie auf einem Zwischenboden und halten sich den vom Aufschlag brummenden Schädel. Sie meinen, am Grund des Unglücks angekommen zu sein, und planen, nach kurzer Erholung den Aufstieg in Angriff zu nehmen. Dabei begreifen sie nicht, dass sie sich im Wartezimmer der eigentlichen Katastrophe befinden, die nicht im Aufschlag besteht, sondern im freien Fall.
Überall in der Stadt klappen die Türen der Duschkabinen. Nackte Männer und Frauen betreten kalten Kachelboden, betrachten mit gemischten Gefühlen ihre nassen Gesichter im Spiegel und frottieren das triefende Haar. Die Uhrzeit könnte Sebastian glauben machen, er sei soeben aufgestanden und bereite sich auf einen ganz normalen Dienstag an der Universität vor. Die Erschöpfung ist wie weggeblasen. Seit er sich im Auto umgezogen und die abgelegten Kleider zusammen mit Drahtseil und Spannvorrichtung in einer zur Abholung bereitstehenden Mülltonne versenkt hat, fühlt sich sein Kopf leicht an, als wollte er wie ein gasgefüllter Ballon zur Decke steigen. Sebastian hat Brötchen gekauft, den Wagen geparkt und die Zeitung mit heraufgebracht. Er nimmt einen Sommeranzug aus dem Schrank und kleidet sich, als gäbe es etwas zu feiern, von Kopf bis Fuß in die Farben der Unschuld. Das Parkett fühlt sich gut an unter den bloßen Füßen; der Duft des frisch aufgebrühten Kaffees ist herrlich. An der offenen Balkontür stehend, erlebt Sebastian einen Zustand seliger Gewissheit. Er ist sicher, dass sein Sohn noch lebt. Einem so lichtbekränzten, windummantelten, vogelbesungenen Morgen kann vielleicht eine spröde Erscheinung wie Dabbeling fehlen, nicht aber ein kleines Wunder wie Liam. Das gleiche Sonnenlicht, das Sebastians Gesicht wärmt, muss irgendwo in nicht allzu weiter Entfernung das Haar des schlafenden Kindes betasten. Einen Zipfel der Luft, die Sebastian atmet, saugt auch Liam in die Lungen. Sogar in den Fingerspitzen, die eine Ranke des Blauregens berühren, spürt Sebastian das Herz seines Sohnes schlagen.
Er gießt Kaffee ein, achtet aus Gewohnheit darauf, keinen überflüssigen Lärm zu verursachen, und setzt sich mit der Zeitung an den Tisch. Für eine Weile gönnt er sich die Illusion, es sei Sonntagmorgen, Maike und Liam lägen noch schlafend in ihren Betten, während er wieder einmal zu früh erwacht ist und sich dem Geschenk von zwei freien Stunden gegenübersieht, die ihm ganz allein gehören. Die Bananen im Obstkorb riechen, als planten sie ihre Rückkehr nach Südamerika. Sebastian will einfach sitzen bleiben und so lange Zeitung lesen, bis er Liams tapsende Füße über den Flur näher kommen hört. Wahrscheinlich wäre das die beste, vielleicht die einzig vernünftige Methode, seinen Sohn zurückzuholen – wenn ihm dafür nicht das letzte Stück Glauben fehlte. Als eine Eintagsfliege im Kaffee ertrinkt, gerät er über ihren Tod beinahe außer sich, bis ihm einfällt, dass diese winzigen Fliegen einander so ähnlich sehen und dabei in so ungeheurer Vielzahl existieren, dass sie schon allein aus organisatorischen Gründen wiedergeboren werden müssen.
Mit einem Teller Käsebrote und noch mehr Kaffee zieht er ins Wohnzimmer um. Die Fernbedienung betätigt er mit dem Gefühl, im Zuge eines Sofapicknicks auf seinen Lieblingsfilm zu warten. Weil es ihm nicht gelingen will, sich für die Fließgewässer in seiner Heimatstadt zu interessieren, schaltet er vom Regionalsender aufs Erste. Um sich wach zu halten, dreht er die Lautstärke hoch. Nach einer Stunde stellt er zusätzlich das Radio ein. Der Kaffee ist kalt, das Brot kaum angerührt. Unablässig wechselt Sebastian Kanäle und Sender; Stimmen schreien durcheinander. Als es um den Medizinerskandal geht, horcht er auf. Irgendein Experte für irgendetwas erklärt, dass die Pharmaindustrie nicht davor zurückschreckt, Medikamente an Menschen zu testen. Zum Beispiel neue gerinnungshemmende Mittel, die bei Herzoperationen zum Einsatz kommen. Aber bislang vor allem in Afrika und nicht in Baden-Württemberg. Ansonsten berichten die Massenmedien über kanadische Robben, asiatische Krebsforschung und skandinavische Musikbands, ohne
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