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Schilf

Schilf

Titel: Schilf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juli Zeh
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sich um einen skurrilen Mordfall zu kümmern, der sich doch unmittelbar im Sendegebiet zugetragen hat. Kriegsbilder aus dem Nahen Osten untermalt das Radio mit schlechter Popmusik. Zu Szenen einer amerikanischen Familienserie verliest eine Frau die Börsenkurse. Alles hat mit allem zu tun, alles steht mit jedem in Zusammenhang. Nur eins fehlt im großen Netz der Bezüge, nämlich die Nachricht, dass ein Oberarzt des Universitätskrankenhauses auf rätselhafte Weise das Zeitliche gesegnet hat.
    Sebastians Wut auf das unzuverlässige Fernseh- und Radioprogramm wird nur vom Ärger über die eigene Dummheit übertroffen. Was, wenn niemand die Leiche findet? Wenn Dabbelings Nichterscheinen am Arbeitsplatz aus Sicht der Täter keinen ausreichenden Beweis für seinen Tod darstellt? Oder was, wenn der Sturz gar nicht tödlich war? Wenn es den Falschen erwischt haben sollte? Ein besonnener Mann hätte den Tatort nicht Hals über Kopf verlassen, sondern das Opfer gesucht, sich von seinem Tod überzeugt und dafür gesorgt, dass man die Leiche sofort entdeckt. Sebastian aber war, wie er selbst weiß, alles andere als besonnen. Was er getan hat, geschah jenseits seiner Fähigkeiten.
    Die Mückenstiche senden einen Juckreiz aus, der über Wirbelsäule und Nacken läuft und sich spitz ins Gehirn bohrt. Sebastian kreuzt die Unterarme und kratzt mit gekrümmten Fingern, den Blick starr auf den Fernseher gerichtet, den Oberkörper wiegend wie ein hospitalistisches Tier.
    Es ist bereits früher Abend und Sebastian kurz davor, die Wohnung zu verlassen, um wie ein Standardmörder an den Ort des Verbrechens zurückzukehren, als er auf einem lokalen Radiosender endlich das Ersehnte vernimmt. Wenig später weiß auch das Fernsehen davon. Sebastian sieht schwankende Bilder des Waldstücks, das er inzwischen nur zu gut kennt und das trotzdem auf dem Bildschirm wenig mit seinen Erinnerungen zu tun hat. Rot-weiße Absperrungsbänder, Teile eines zerlegten Fahrrads im Farn. Drei Kühe schauen wiederkäuend in die Kamera. Ein starker Zoom löst die Farben zu körnigen Flächen auf. Mit etwas Phantasie sind die verdrehten Glieder eines Körpers zu erkennen, der zwischen altem Laub und Brombeerranken liegt. Die flache Hand eines Polizisten verdeckt die Linse. Ein aufgeregter Reporter, dem die grelle Abendsonne den Schweiß in Tropfen auf die Stirn treibt, will den Erkenntnissen der Kripo nicht vorgreifen, kann aber auch nicht unerwähnt lassen, dass der Tote in Chefarzt Schlüters Abteilung gearbeitet hat. Triumphierend präsentiert er die pikante Pointe seines Berichts. Das Haupt der Leiche hat die Polizei erst nach langem Suchen gefunden. Es klemmte über den Köpfen der Spurensucher in einer Astgabel und verfolgte den Hergang der Ermittlungsarbeit mit weit aufgerissenen Augen.
    Als der Fernseher schweigt, sitzt Sebastian wie unter Wasser. Jede Bewegung verzögert, jeder Atemzug ein Strudel, jeder Gedanke eine aufsteigende Blase. Er hat den Auftrag erfüllt und damit seine Daseinsberechtigung verloren. Es gibt keine Pläne für weitere Handlungen, keinen Grund, sich zu bewegen. In der Nacht hat er eine Theorie entwickelt, den Sinn des Lebens betreffend, die ihm nun, in der Unterwasserstille der Wohnung, wieder klar vor Augen steht.
    Das Leben läuft wie jede andere Geschichte rückwärts auf die eigene Ursache zu. Weil Menschen gewöhnlich von vorn nach hinten denken, bleibt ihnen die Bedeutung ihres Daseins verborgen. Wer jedoch das Prinzip erkannt und herausgefunden hat, welchem künftigen Zweck er dient, kann fortan jedes Ereignis als Teil seiner persönlichen Bestimmung betrachten. Und deshalb mit Fassung ertragen.
    Ohne Zweifel besteht Sebastians persönliche Bestimmung in Liams Rettung. Unter den Ereignissen, die er mit Fassung hinnehmen will, stellt er sich seine Entdeckung und Verhaftung vor; dazu Maikes Entsetzen und den Zusammenbruch seiner Eltern; Gewissensqualen, eine Verurteilung zu jahrelanger Haft. Auf diese Dinge glaubt er sich vorbereitet. Er sitzt in unveränderter Haltung, hat einen fauligen Geschmack auf der Zunge, nach Gewerbebach und einem zu lange nicht gewechselten Himmel, als sich nicht länger verheimlichen lässt, wie sein wahres Problem beschaffen ist. Vor ihm auf dem Couchtisch liegen zwei Telefone, das Handy und der schnurlose Apparat des Festanschlusses, beide frisch aufgeladen, viele Male überprüft, definitiv betriebsbereit. Aber sie klingeln nicht. Ihre Art, nicht zu klingeln, signalisiert einen endgültigen

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