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Schilf

Schilf

Titel: Schilf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juli Zeh
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Forellen aus einem überfüllten Zuchtteich.
    Sebastian selbst sitzt tief gebeugt am Esstisch, auf demselben Platz, an dem er kürzlich zum letzten Mal mit seiner Familie und Oskar zu Abend gegessen hat. Er hat die Ärmel aufgekrempelt, die Arme sind blutverkrustet. Auch der helle Stoff seines Anzugs ist an vielen Stellen beschmiert. Bei jeder Bewegung kann er sich selbst riechen. Angstschweiß und Schlaflosigkeit und der Gestank eines Wartens, von dem er nicht mehr sagen kann, wie viele Tage es gedauert hat.
    »Wie spät ist es?«
    Oskars Lächeln wird erneut zum Lachen:
    »Hast du angerufen, um nach der Uhrzeit zu fragen? Es ist drei Uhr früh.«
    »Mein Gott«, sagt Sebastian. »Gleich wird es wieder hell.«
    »Du klingst seltsam. Als stündest du tausend Lichtjahre entfernt und wärest seit tausend Jahren tot.«
    »Das trifft es nicht schlecht.«
    Es gibt einen besonderen Tonfall, eine in den Untertönen dunkel vibrierende Melodie, die einsetzt, sobald Oskar und Sebastian in Ruhe miteinander reden. Der Zusammenklang ihrer Stimmen entfaltet einen intimen, vom Rest der Welt getrennten Raum, dem zuliebe Sebastian manchmal die Verbindungstür zum Vorzimmer seines Institutsbüros schließt, um Oskars Dienstnummer zu wählen. Dann fragt er ihn, wie er den Tag verbracht habe, ob die Arbeit vorangehe, wie das Wetter in der Schweiz sei. Auch jetzt verspürt er Lust, Oskar zum Reden zu bringen, sich nach der vergangenen Nacht zu erkundigen und ihn erzählen zu lassen, wen er getroffen und was er gemacht hat. Eingelullt von den vertrauten Klängen, würde er nach einer Weile das Telefon niederlegen und sich widerstandslos in jenem Nichts verlieren, dem er durch den Anruf gerade zu entkommen versucht.
    »Warum erwartest du, dass ich anrufe?«, fragt Sebastian.
    »Damit du mir das Ende deines Viele-Welten-Märchens erzählst.«
    An Zirkumpolar hat Sebastian überhaupt nicht mehr gedacht. Im Nachhinein erscheint ihm seine Aufregung so lächerlich, dass Stirn und Wangen warm werden vor Scham.
    »Es dreht sich um etwas anderes«, sagt er schnell. »Ich habe einen Mann umgebracht.«
    »So?«, sagt Oskar.
    Sebastian schweigt. Dieses gleichgültige »So« ist ein Verbrechen, dem seinen fast ebenbürtig, und zugleich ein kostbares Geschenk. Es ist eine winzige, aber rasiermesserscharfe Waffe, die er fortan, wann immer nötig, seinem Gewissen entgegenhalten kann. Natürlich hätte er es ahnen können. Oskar ist kein Mann, der aufspringt und die Fäuste ballt. Er schlägt nicht die Hände über dem Kopf zusammen und rauft sich nicht das Haar. Seine Gelassenheit ist keine Attitüde, hinter der sich ein ängstliches Wesen verbirgt. Diese Gelassenheit ist aus Granit und kennt nur eine einzige Grenze, die genau dort verläuft, wo Sebastians Weltanschauung beginnt. Wie immer ist Oskar das, wofür Sebastian ihn am meisten hasst und wofür er ihm nun unendlich dankbar ist: Fatalist.
    »Dabbeling?«, fügt Oskar schließlich hinzu.
    »Woher weißt du das?«
    »Sein Bild ist in allen Zeitungen. Das Drahtseil hat mir Sorgen gemacht. Du erinnerst dich: Liam und die Nazis im Cabrio.«
    »Das hatte ich vergessen. Ich hielt es für meine eigene Idee.«
    »Eigene Ideen sind seltener, als wir wünschen.«
    Während Sebastian in Freiburg den Kopf auf die Tischplatte sinken lässt, rückt Oskar in Genf auf dem durchgelegenen Sofa hin und her, um eine bequemere Haltung zu finden. Gemessen am makellosen Äußeren seines Herrn, ist der Zustand des Möbelstücks eine Sünde. Aber eine, die Oskar sich leisten kann. Durch das schräge Dachfenster blickt er in den Himmel. Der Mond, grell wie ein Theaterscheinwerfer, taucht das Zimmer in weißes Licht. Oskar zündet sich eine Zigarette an und lässt Rauch in trägen Schwaden aus Mund und Nase entweichen.
    »Eifersucht?«, fragt er. »Wegen Maik?«
    »Das ist doch Unsinn!«, ruft Sebastian ein wenig zu entrüstet.
    »Was dann? Ein Ausbruchsversuch?«
    »Oskar …«
    »Oder ein Experiment zur Unumkehrbarkeit der Zeit?«
    »Oskar! Ein Mann ist tot. Ist dir das scheißegal?«
    Aus dem Mund des Mörders klingen diese Sätze nach schlechtem Kabarett. Es ist dem Ernst der Lage geschuldet, dass Oskar die Gelegenheit auslässt, seinen Freund damit aufzuziehen.
    » Cher ami .« Oskar nimmt noch zwei schnelle Züge und stößt die Zigarette in den Aschenbecher, der neben der Couch am Boden steht. »Das Leben ist nur ein Ausnahmezustand der Natur. Hast du Dabbeling gemocht?«
    »Das ist doch jetzt völlig egal!«
    »Gib

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