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Schilf

Schilf

Titel: Schilf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juli Zeh
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der anderen Seite die Furcht, das Leben des eigenen Sohnes durch Untätigkeit zu gefährden. Daneben ist kein Platz für Überlegungen. Nicht für die Frage, wie lange es noch dauern kann, bis man sich bei ihm meldet. Auch nicht für den Gedanken, dass er sich wenigstens über das Fernbleiben der Polizei freuen müsste, weil jede verstreichende Minute Anlass zur Hoffnung gibt, mit diesem stümperhaften Mordplan davonzukommen.
    Die Sonne ist untergegangen; die Luft riecht schon lange nicht mehr nach einem lebendigen Liam. Nichts liefert den Beweis dafür, dass Sebastians Warten nicht den Beginn einer lebenslangen Totenwache darstellt. Sein Bart wächst. Ebenso Fingernägel und Haare. Lange ist es dunkel; dann wird es langsam wieder hell.
    Gegen Mittag des folgenden Tages verstummt das Rumoren der Gedärme. Der Organismus hat seine Zucker- und Eiweißvorräte aufgebraucht und macht sich daran, die Fettreserven anzugreifen. Irgendwann sind die Rückenschmerzen unerträglich geworden und schließlich verschwunden. Seitdem sitzt Sebastian nicht mehr auf dem Sofa, sondern gehört ihm an. Seine Person verwischt an den Rändern, wird zum festen Bestandteil des Zimmers, das zu einem Haus gehört, welches in einer Stadt steht, die in einem Netz aus Straßen, Gleisen, Wasser- und Luftwegen verankert ist, welche die Erde umspannen, die sich um eine Sonne dreht, welche der Milchstraße angehört; und so fort. Der Zustand zwischen Wachen und Schlafen wird von hellen Momenten unterbrochen, in denen er weiß, dass er, gleichgültig, was die Zukunft bringt, nie wieder der Mensch sein wird, den er einmal kannte. Dass er niemals zu dem zurückkehren kann, was sein Leben war.
    Das Klingeln des Telefons besitzt die Macht eines Schlaganfalls. Der Leib krümmt sich, ein Zucken läuft durch den linken Arm. Erst wirft Sebastian das Gerät vom Tisch, dann presst er es ans Ohr, als wollte er es direkt mit dem Gehirn verbinden. Er führt eine Unterhaltung, deren Sinn er erst im Nachhinein begreift. Maike hat wieder von Bergen, Wind und gutem Wetter erzählt und gefragt, ob ansonsten alles in Ordnung sei. Sebastians stockende Redeweise schob sie lachend auf seine totale Vereinsamung in der physikalischen Ideenwüste. Sie hatte nicht viel Zeit, sie sei zum Abendessen verabredet; und auch Sebastian wollte nicht lange sprechen, er stecke gerade in einem wichtigen Gedankengang.
    Als das Telefon wieder vor ihm liegt, zittert er vor Wut. Der falsche Anruf hat die Abwesenheit des richtigen um ein Hundertfaches verschlimmert. Die Erregung treibt Sebastian von der Couch und durch die Wohnung. Seine Arme beginnen wieder zu jucken, mit einer Hartnäckigkeit, die den Lärm im Kopf zu höhnischer Lautstärke anschwellen lässt. Sebastian zieht Schubladen aus dem Wohnzimmerschrank und wirft sie zu Boden, bis er sein Taschenmesser gefunden hat. Mit der stumpfen Seite der Klinge kratzt er über die geschwollenen Stiche; das fließende Blut bringt Erleichterung. Das Messer sticht er in die Flanke des Sessels. Er drischt gegen Türrahmen, tritt Stühle um. Zeitschriften flattern wie aufgescheuchte Vögel durch die Luft. Eine Vase trifft die Wand, der Wasserfleck zeigt die Form einer abwehrend gespreizten Hand. Sebastian schlägt die Stirn gegen den Fleck, bis sich das Zimmer in ein eintöniges Brummen verwandelt hat. Irgendwann steht er auf dem Balkon und reißt Luft in die Lungen, das Geländer umklammernd wie die Reling eines Schiffs, das mit atemberaubender Geschwindigkeit der nächsten Nacht entgegenrast. Als eine Taube in einem Blumenkasten landet, schreit er sie an. Wo ist mein Sohn, Luftratte, Allesfresser, wo ist Liam?
    Die Spitzen seiner vorschnellenden Finger streifen die Schwanzfedern, bevor sich das erschrockene Tier über den Rand des Balkons in die Tiefe fallen lässt. Es ist nicht ungefährlich, einen Menschen beim Warten zu zeigen.

7
    S chon nach dem zweiten Freizeichen ist Oskar dran.
    »Vergiss es, Jean!«
    »Wer ist Jean?«
    »Sebastian!« Über Oskars befreites Lachen hätte sich Jean, wer auch immer er sein mag, bestimmt gefreut. »Ich warte seit Tagen auf deinen Anruf.«
    Der folgenden Pause ist anzumerken, dass Oskar immer noch lächelt. Ein Sofa knarrt. Sebastian kann sich vorstellen, wie Oskar, in schwarzen Hosen und einem weißen Hemd, das ihm vortrefflich steht, behaglich die Beine ausstreckt. Sicher ist er soeben erst nach Hause gekommen. Bei Nacht, hat er Sebastian einmal erklärt, kannst du aus dieser Stadt Menschen fischen wie

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