Schilf
Abbruch aller Verbindungen mit der Wirklichkeit. Niemand ruft an, kein Entführer, kein Liam, nicht einmal Maike oder die Polizei. Kaum hat Sebastian das verstanden, wird der Zwischenboden weggezogen. Der freie Fall beginnt.
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I n seinen Vorlesungen präsentiert Sebastian gern eine selbsterfundene Typologie des Wartens. Das Warten (so beginnt er) ist ein intimes Zwiegespräch mit der Zeit. Langes Warten ist mehr als das: ein Zweikampf der Zeit mit ihrem Erforscher. Wenn Sie, meine Damen und Herren, das nächste Mal im Studentensekretariat um eine Auskunft anstehen, nehmen Sie kein Buch mit. (Gelächter.) Überlassen Sie sich der Zeit, unterwerfen Sie sich, liefern Sie sich aus. Diskutieren Sie mit sich selbst die Länge einer Minute. Finden Sie heraus, was zum Teufel das Gerät an Ihrem Handgelenk mit Ihnen selbst zu tun hat. Fragen Sie sich, was dieses Warten sein soll: ein Verrat an der Gegenwart zugunsten eines Geschehens in der Zukunft? (Schweigen.) Aber was ist Gegenwart? (Anhaltendes Schweigen.) Beim Warten werden Sie feststellen, dass ein gegenwärtiger Augenblick nicht existiert. Dass er immer schon vorbei ist oder noch nicht ganz da, wenn Ihr Verstand nach ihm zu greifen versucht. Vergangenheit und Zukunft, so Ihre Erkenntnis, sind direkt aneinandergenäht. Aber wo, meine Damen und Herren, befindet sich dann der Mensch? Gibt es uns in Wahrheit vielleicht gar nicht? (Verhaltenes, schnell abebbendes Gelächter.) Sind wir gar nicht wirklich da, weil das Zeitkostüm keine Löcher für Kopf und Arme besitzt? Und bedenken Sie: Der Mensch wartet nicht nur auf das Verstreichen der ewigen Mittagspause unserer Verwaltungsdamen. (Ein vereinzeltes Auflachen mit anschließendem Räuspern.) Sie zum Beispiel warten gerade auf das Ende meiner Vorlesung. Im Anschluss daran warten Sie in der Mensa auf Ihr Essen, während des Essens auf den Beginn der nächsten Lehrveranstaltung und während dieser auf den Feierabend. Natürlich warten Sie die ganze Zeit aufs Wochenende und darüber hinaus auf die Semesterferien. Das Warten, meine Damen und Herren, besteht aus unzähligen Schichten. Insgesamt warten Sie darauf, Ihr Vordiplom zu erwerben, Ihr Studium abzuschließen, einen Job zu finden. Sie warten auf besseres Wetter, glückliche Zeiten und die große Liebe. Wir alle warten, ob wir wollen oder nicht, auf den Tod. Die Wartezeit sämtlicher Etappen vertreiben wir uns mit allerhand Beschäftigungen. Merken Sie etwas? (Eine lange, kunstvoll gedehnte Pause.) Das Leben besteht aus Warten, das Warten nennt man Leben. Warten ist Gegenwart. Das generelle Verhältnis des Menschen zur Zeit. Warten zeichnet Gottes Umrisse an die Wand. Warten (pflegt Sebastian zum Abschluss zu rufen) ist jenes Durchgangsstadium, das wir als unsere Existenz bezeichnen!
Seine Vorträge kommen gut an. Sie erwecken bei den Studenten den Eindruck, er habe das Phänomen durchdrungen und würde sie über ihre Alltagsvorstellungen hinaus einem neuen Verständnis der Zeit zuführen.
In Wahrheit hat Sebastian nicht einmal seine eigene Typologie des Wartens begriffen. Eine wichtige Kategorie hat er rundweg übersehen. Sie hat mit Zeit gar nicht viel zu tun; oder höchstens mit der Aufhebung derselben. Es ist ein Warten, das vollauf in Anspruch nimmt und keine Ablenkung erlaubt, weder fernsehen noch das Lesen eines Buchs; keine Nahrungsaufnahme und keinen Gang aufs Klo. Dieses Warten besteht darin, die Vernunft vom Kollabieren und den Leib vom Selbstmord abzuhalten. Es ist das Warten des Fallenden auf einen Aufschlag, der nicht kommt.
Sebastians Kopf ruht nach hinten gekippt auf der Rückenlehne der Couch. Die Hände liegen auf den Oberschenkeln, die Füße hat er etwa schulterbreit auseinandergestellt. In dieser Position braucht der Körper keinen Gleichgewichtssinn; selbst ein Toter könnte so die Balance halten. Unter halb geschlossenen Lidern sieht er die obere Hälfte eines Regals, den üppigen Haarschopf einer Topfpflanze, die damit beschäftigt ist, zehn Ableger in der Woche zu produzieren, sowie die Oberkante eines der Bilder, die Maike als Leihgabe von den Künstlern ihrer Galerie erhält. Viel rote Farbe auf schwarzem Grund. An den Namen des Gemäldes kann er sich nicht erinnern. Trotzdem ist er mit seinem Sichtfeld vollauf zufrieden. Nichts belästigt ihn, während sein Denken ergebnislos zwischen zwei Punkten pendelt. Auf der einen Seite die Überzeugung, weiterhin durch Gehorchen das einzig Richtige zu tun (keine Polizei, zu niemandem ein Wort). Auf
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