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Schilf

Schilf

Titel: Schilf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juli Zeh
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in Weiß unter Verdacht geraten.«
    »Und da kommen Sie extra zum Bahnhof und warten eine Stunde, um mich persönlich vom Zug abzuholen?«
    Rita stopft das letzte Stück Brot zwischen die Zähne, kaut viel zu lange und protestiert nicht, als Schilf ein Päckchen Zigarillos aus der Tasche zieht.
    »Ich wollte ungestört mit Ihnen reden«, sagt sie. Für ihre Verhältnisse klingt es kleinlaut.
    »Das ist ein rauchfreier Bahnhof!«, ruft der Imbissverkäufer hinter seiner Theke.
    »Und das ist ein rauchender Irrer mit guten Freunden beim Gewerbeaufsichtsamt«, ruft Rita zurück.
    Schilf bläst Rauch durch die Nase und schaut zu, wie das Licht mit den aufsteigenden Schwaden spielt. Der Imbissverkäufer macht sich daran, seine Theke zu wischen.
    »Patientenversuche«, sagt Rita. »Eine scheußliche Sache. Finden Sie nicht?«
    »Der Typ mit der Entführung«, sagt Schilf, »was ist der von Beruf?«
    »Professor für Physik«, sagt Rita. »Aber darum geht’s hier nicht. Versuchen Sie mal, einem Arzt was zu beweisen. Die mauern alle. Genau da sind Ihre Fähigkeiten gefragt. Kommissar Schilf?«
    Der hört nicht mehr zu. Er hat das Zigarillo zwischen die Zähne geklemmt, die Tasche vom Boden aufgehoben und ist bereits einige Schritte Richtung Ausgang gelaufen.
    »Kommen Sie«, ruft er über die Schulter.
    Hinter den Glastüren des Eingangsportals steht eine Wand aus Hitze. Über dem Dach des lippenstiftroten Corsa, der im Halteverbot parkt, flimmert die Luft. In einer spontanen Anwandlung von Respekt öffnet Rita die hintere Tür; gerührt klettert der Kommissar auf die Rückbank. Seine Hoffnung auf eine Klimaanlage wird enttäuscht. Während Rita fluchend versucht, den Wagen in den Berufsverkehr einzufädeln, findet Schilf Zeit für einen Springerzug, den er als letzte Rettungsmöglichkeit erdacht hat. Seine Verteidigung liegt am Boden, die Dame wird von ihren eigenen Offizieren blockiert. Da hilft nur Flucht nach vorn; eine weitere Figur auf die umkämpfte Ecke des feindlichen Königshauses. Rita findet eine Lücke. Es geht stockend voran. Im Innenspiegel suchen ihre Augen die des Kommissars.
    »Machen wir’s kurz, Schilf«, sagt sie. »Ich wollte Ihnen vorschlagen, den Polizeipräsidenten anzurufen.«
    Der Fehler ist selbst für einen Anfänger zu dumm. Er ist von so sträflicher Unbesonnenheit, dass Schilf es kaum glauben kann, als mit einem kurzen Flackern des Displays sein Pferd verschwindet. Im Eifer des Gefechts hat er die simple Deckung des begehrten Felds übersehen. Erschöpft lässt er sich in die Kunststoffpolster sinken. Ritas Corsa ist eins jener Autos, die ihr Leben lang nach Neuwagen riechen. Der Kommissar überlegt, die Partie abzubrechen. Den eigenen König umlegen und kapitulieren. Wütend starrt er hinaus. Die Uferwiesen der Dreisam sieht er von hellen Flecken gesprenkelt, Schneewehen oder Möwen, die mit ausgebreiteten Flügeln auf ihren Bäuchen liegen, oder schlafende Schafe, falls Schafe jemals schlafen, ganz sicher ist sich der Kommissar in dieser Frage nicht. Rita räuspert sich.
    »Passen Sie auf, Schilf. Sie sagen dem Chef, dass man Sie für den Medizinerskandal am dringendsten braucht. Und den Radfahrer, den Sie ohnehin nicht für wichtig halten, überlassen Sie mir.« Über den Rückspiegel wirft sie ihm einen lauernden Blick zu. »Die Fälle sind eng verbunden. Wir würden so oder so zusammenarbeiten.«
    Schilf speichert die Partie. Sehnsüchtig denkt er an jenes Universum, in dem er den albernen Springerzug nicht gemacht hat und in dem er überhaupt jedes Spiel gegen den Schachcomputer gewinnt, weshalb er in dieser Welt unentwegt verlieren muss, weil es insgesamt nicht Sieg oder Niederlage gibt und kein Richtig oder Falsch, sondern nur Sieg und Niederlage sowie Richtig und Falsch.
    »Hören Sie überhaupt zu?«, fragt Rita.
    »Nein«, sagt Schilf. »Aber den Radfahrer können Sie behalten. Und den ganzen restlichen Unsinn auch. Ich übernehme den Physikprofessor. Und jetzt schauen Sie nach vorn.«
    »Warum?«
    »Wegen der Ampel!«
    Die Vollbremsung singt ein zwei gestrichenes C und faltet den schlaffen Körper des Kommissars um den Sicherheitsgurt. Stöhnend reibt er sich die Magengrube.
    »Ich meine«, sagt Rita misstrauisch, während sie den Wagen zurücksetzt, um die Kreuzung freizugeben, »warum wollen Sie einen Job nicht machen, dessentwegen Sie extra hergekommen sind?«
    Dessentwegen. Schilf weiß, warum er Rita Skura vom ersten Moment an gemocht hat. Auf ihre Weise ist sie in dieser

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