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Schilf

Schilf

Titel: Schilf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juli Zeh
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Schilf glättet einen Stoß zusammengerollter Papiere vor sich auf dem Tisch. In ihrem Büro hat Rita die Physiker-Akte wortlos auf jene Ecke des Schreibtischs geknallt, die sie zuvor durch das Heranziehen eines Plastikstuhls als Schilfs künftigen Arbeitsplatz ausgewiesen hatte. Dieser gab die Unterlagen dem nächstbesten Wachtmeister zum Kopieren, so dass er nun über ein Exemplar verfügt, das er nicht pfleglich behandeln muss.
    Trotz langjähriger Berufserfahrung durchläuft ihn angesichts eines solchen papiergewordenen Menschenschicksals ein leichter Schauer. Jede Akte, die er aufschlägt, ist eine Kreuzung zwischen seinem Leben und dem eines Unbekannten. Die Fäden, die sich schon beim ersten Lesen miteinander verbinden, werden nie wieder zu entwirren sein.
    Nicht eine Sekunde hat Schilf daran gezweifelt, welchen Freiburger Physiker der Entführungsfall betrifft. Das Photo des lachenden Sebastian steht ihm vor Augen, während er die von Sandström protokollierte Aussage überfliegt.
    Der Wagen war nicht einfach weg. Er hatte sich in ein Nichts von besonderer Qualität verwandelt, in die schreckliche Hinterlassenschaft eines Vorfalls, der sich nicht hätte ereignen dürfen. Wussten Sie, Herr Sandström, dass es eine ganz erstaunliche Menge Dinge gibt, von denen wir glauben, dass sie niemals geschehen werden? Von deren Nicht-Eintreten wir so fest überzeugt sind wie von der Annahme, dass sich die Erde um die Sonne drehe? Der eigene Tod gehört zu diesen Dingen. Und das Verschwinden eines Jungen wie Liam gehört auch dazu. Wenn so etwas passiert, gerät die Welt aus der Spur. (Anmerkung von Sandströms nervöser Hand: Der Zeuge beginnt zu schreien.) Sie, Herr Sandström, müssen das wieder in Ordnung bringen. Das ist Ihr Job. Verstehen Sie?
    Schilf ist sicher, dass Sandström den Zeugen nicht verstanden hat. Er hingegen versteht ihn. Wenn er sich vorstellt, dass diese wortgewordenen Hilfeschreie demselben Kopf entstammen wie die nüchternen Phrasen des wissenschaftlichen Beitrags, steigt ihm das Mitgefühl heiß in die Kehle. Der Physikprofessor war daran gewöhnt, die Welt mit der Kraft seines Verstandes zu bezwingen. So also spricht er, nachdem er drei Tage lang auf Nachricht von seinem Sohn gewartet hat.
    Die Kellnerin ist fertig mit den Speisekarten. Jetzt folgen Windlichter, die im hellen Morgenlicht Symbole der Nutzlosigkeit sind. Ein Kunde nähert sich dem Photogeschäft und klopft an die Gitterstäbe des Käfigs.
    »Bitte recht freundlich«, sagt der Papagei.
    Die anderen Teile der Akte schaut Schilf nur flüchtig durch. Sandströms Handschrift ist die zunehmende Überforderung anzusehen. Das kurze Gutachten der Polizeipsychologin stellt fest, dass Sebastian nicht an Schizophrenie leidet. Die Spurensicherung merkt an, dass der Volvo am Tag nach der Entführung professionell gereinigt wurde.
    »Was darf ich bringen?«
    Schilf lässt die Papiere sinken.
    »Das ist was für Dialektiker«, murmelt er.
    »Was haben Sie gesagt? Sie sind Diabetiker?«
    Die Augen der Kellnerin liegen schräg unter den gezupften Brauen und sind von klarem Grün. Wahrscheinlich trägt sie farbige Kontaktlinsen, die ihr den klaren, allwissenden Blick einer Katze verleihen sollen. Schilf muss zugeben, dass es funktioniert.
    »Pass auf«, sagt der Ara.
    »Eine Zeitung«, sagt der Kommissar. »Und Milchkaffee.«
    »Den können Sie trinken«, nickt die Kellnerin. »Da ist kein Zucker drin.«
    Mit einer Zeitung und einem hohen Glas, in dem Kaffee und Milch in verschiedenfarbigen Schichten übereinanderlagern, kehrt die Kellnerin an den Tisch zurück. Sauber platziert sie einen langstieligen Löffel neben dem Glas und lässt das Papierröllchen mit Zucker in der Tasche ihres Minirocks verschwinden. Schilf lässt sie gewähren, obwohl ihm Kaffee mit Zucker lieber ist. Er schlägt die Zeitung auf. Die Schlagzeile, rot unterlegt, reicht über die ganze erste Seite. SCHLÄCHTER IN WEISS. Ein gewaltiges Fragezeichen nimmt der Überschrift ein Stück von ihrer Endgültigkeit. Die Kellnerin steht müßig am Tisch und beobachtet eine Touristengruppe, die mit zurückgelegten Köpfen den Turm des Münsters begafft. Unter der Schlagzeile zeigen großflächige Photos einen kantigen Mann im gelben Sporttrikot, der ernst dreinblickt und einen Pokal in die Kamera hält, sowie einen glatzköpfigen Arzt im Kittel, dem es nicht ganz gelingt, eine Hand zwischen sich und den Betrachter zu heben.
    »Und es ist trotz allem nur ein Kirchturm«, sagt die

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