Schilf
Kellnerin schadenfroh und fügt mit einer vagen Geste in Richtung der Zeitung hinzu: »Alles Quatsch.«
»Was ist Quatsch?«, fragt Schilf.
»Der da hat den da nicht umgebracht.« Abwechselnd deutet sie auf die beiden Photos. »Sie sind wohl nicht von hier?«
»Meine Freundin und ich, wir leben in Stuttgart.«
Schilf kennt den Gesichtsausdruck, mit dem Menschen einen senilen Spinner begutachten, ein sicheres Zeichen dafür, dass er sich auf dem richtigen Weg befindet. Die Kellnerin nickt mit hochgezogenen Augenbrauen und macht sich daran, ihre Anwesenheit zu rechtfertigen, indem sie an der Tischkante herumwischt. Ihre Bewegungen sind abgezirkelt wie die einer Maschine und schießen niemals über das Ziel hinaus. Wenn es der Kommissar genau nimmt, wirkt auch der Papagei mit seinem aufgemalten Käppchen, als hätte er nichts als Schrauben im Kopf, während die Touristengruppe gerade auf einem Fließband aus dem Bild befördert wird. Vielleicht bin ich hier überhaupt das letzte Wesen aus Fleisch und Blut, dachte der Kommissar, denkt der Kommissar. Und damit beschäftigt, Verbrechen unter Robotern aufzuklären.
»Aber der hat doch ein Motiv«, sagt Schilf. »Bestimmt hat dieser Oberarzt von den Patientenversuchen gewusst und den Chefarzt damit erpresst.«
Er hebt den Kopf und überzeugt sich davon, dass ihn die Kellnerin misstrauisch ansieht. Den Katzenblick fühlt er wie eine körperliche Berührung, besonders an Stirn und Schläfen.
»Alles Quatsch«, wiederholt sie hartnäckig.
»Woher wissen Sie das?«
»Intuition.«
Sie tippt sich ans Piratenkopftuch, und Schilf nickt anerkennend, weil sie den Sitz der Intuition in den Tiefen ihres Gehirns vermutet und nicht wie die meisten Menschen zwischen Zwerchfell und Bauchspeicheldrüse.
»Einer wie der da«, sie bohrt einen künstlichen Fingernagel in Schlüters halb verdeckte Visage, »macht was richtig oder gar nicht. Die Stümperei mit dem Drahtseil hat doch nur durch Zufall geklappt.«
Schilf verkneift sich eine Bemerkung über das Wesen des Zufalls und beeilt sich mit seiner nächsten Frage.
»Wer war’s dann?«
»Ich heiße Kodak«, sagt der Papagei.
»Agfa«, verbessert Schilf.
»Das Vieh nervt«, sagt die Kellnerin. »Entweder, der Schlüter hat das in Auftrag gegeben …«
Als sie in Nachdenken versinkt, befürchtet Schilf, ihr könnte der Akkustrom ausgehen.
»Oder?«, fragt er drängend.
»Oder der Tod von dem da hat mit diesem da gar nix zu tun. Falls Sie was essen wollen, wir haben auch Sachen ohne Zucker.«
Sie wendet sich ab und läuft mit ihren exakten Bewegungen, begleitet vom rhythmischen Klatschen der Badeschlappen, zum Eingang des Cafés. Sie sollten ihren Robotern ein Fremdwörterlexikon auf die Festplatte laden, denkt der Kommissar. Ansonsten arbeiten sie ja schon ganz gut.
»Pass auf.«
Schilf hat den Eindruck, dass der Vogel ihm etwas Bestimmtes mitteilen will. Nachdenklich beobachtet er den Papagei, der unschuldig an einer Hirsestange knabbert. Weil sonst nichts geschieht, verstaut er die Akte und holt sein Handy hervor. Die Bahnauskunft informiert ihn darüber, dass der erste Zug aus Airolo nicht vor elf in Freiburg ankommen wird.
2
I n diesem ersten Zug aus Airolo sitzt Maike und fühlt sich dabei wie ein Mitfahrer einer Geisterbahn. Ruckelnd geht die Fahrt über einen verschlungenen Parcours, während vor den Fenstern eine Reihe von Dioramen vorbeigezogen wird. Weiße Ziegen auf öligem Grün, von denen eine die Schnauze hebt und senkt. Gleitende Seilbahngondeln vor steifem Gipfelpanorama. Ein alter Mann, der neben seiner Holzhütte das Hackebeil schwingt. Wohlgenährte Kühe werben für politische Neutralität. In kleinen Ländern liegt das Monströse im Detail.
Wenn Maike besonders glücklich oder unglücklich ist, erstellt sie Listen. Es gibt eine Liste der schönsten Tage ihres Lebens (ihre Hochzeit auf Platz eins), der größten Katastrophen (wenig Einträge), der wichtigsten Erfolge (die Gründung der Galerie für Moderne Kunst ), der peinlichsten Situationen (kurz vor einer Vernissage trägt die neue Putzfrau einen Haufen zerbrochener Stühle auf die Straße). Maike führt Aufstellungen von Lieblingsgerichten, von lästigen Zeitgenossen und sehnlichsten Wünschen. Ihr Gedächtnis ist ein gut sortierter Fundus, in dem ein Archivar Neuzugänge kategorisiert. Sie kann von fast allem, was ihr zugestoßen ist, genau sagen, wie sie es fand. Das Listenführen ist ihre persönliche Form der Erinnerungsinventur. Seit der
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