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Schilf

Schilf

Titel: Schilf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juli Zeh
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Display herumtippt, lässt sie sich auf der Armlehne des Sessels nieder, guckt ihm über die Schulter und kitzelt ihn dabei mit ihren Locken, bis er verloren hat und mit ihr essen geht.
    Auf Knopfdruck erscheint die am Vorabend unterbrochene Partie. Wie immer ist der Kommissar dran. Die Maschine rechnet niemals länger als ein paar Sekunden, während er für jede Entscheidung eine halbe Stunde braucht. Sie wartet geduldig auf ihn, der nicht in der Lage ist, den einfachsten Algorithmus im Kopf abzuwickeln und sich in seinen Berechnungen verstrickt, bis er endlich unter der Parole »Man kann’s ja mal versuchen« irgendeine haarsträubende Tölpelei unternimmt. Das Gerät lässt ihn seine verhängnisvollen Fehler selbst machen, so dass ihn am Ende das Gefühl quält, nicht besiegt worden zu sein, sondern sich selbst Schachmatt gesetzt zu haben.
    Bei Offenburg stürzt er sich in einen waghalsigen Läuferangriff über den Damenflügel, den er durch das Vorrücken einer Bauernphalanx vorbereitet zu haben meint. Zum Äußersten entschlossen sind seine kleinen Soldaten dem Feind entgegenmarschiert und blicken nun aus nächster Nähe der gegnerischen Dame ins Gesicht. Zum Spaß denkt sich Schilf die fremde Königin mit Rita Skuras Gesichtszügen. Im Hintergrund plagen sich ein paar aufgeregte Offiziere mit einem viel zu schlauen Plan. Das hat noch kein Großmeister vorgemacht. Es hat auch noch nie funktioniert.
    Tatsächlich kämpft Schilfs Armee um ihr Leben, als der Zug in den Freiburger Hauptbahnhof einfährt. Auf dem Bahnsteig lassen wartende Passagiere ihr Gepäck fallen und pressen die Hände auf die Ohren. Ein infernalisches Kreischen der Bremsen hält für drei volle Sekunden die Zeit an. Eilig rafft der Kommissar sich und seine Siebensachen von den Sitzen.
    Während er neben seinem grünlichen Spiegelbild an der langen Reihe von Zugfenstern entlangschreitet, fragt er sich zum hundertsten Mal, warum er sich beim Schach gegen einen stärkeren Gegner um Kopf und Kragen spielt, ohne die Taste zur Zurücknahme eines Fehlers zu benutzen. Im echten Leben wäre er sofort bereit, eine ganze Reihe von Fehlern ungeschehen zu machen. Ohne Zögern würde er seiner höchstpersönlichen Partie, die damals mit dem Bruch in einem bösen Schachmatt endete, eine neue Wendung geben. Vielleicht ist »Berührt, geführt« weniger eine Schachregel als eine Charakterfrage, dachte der Kommissar, denkt der Kommissar.
    Am Ende des Bahnsteigs steht ein Kaffeeautomat, vor dem eine Frau in geblümtem Kleid und Strickjacke auf ihren Becher wartet. Sie macht sich nicht die Mühe, sich umzudrehen.
    »Schilf. Gratuliere zur Beförderung.«
    Er hat ausreichend Zeit, sich vom Schrecken zu erholen, während Rita Skura dem Fallen der letzten Kaffeetropfen zusieht. Sie nimmt den Becher vom Abtropfgitter und hebt ihn für einen ersten Schluck an die Lippen, bevor sie dem Kommissar ihre rechte Pranke entgegenstreckt, eine Geste, die bei ihr, ein paar Tausend Jahren Kulturgeschichte zum Trotz, etwas Bedrohliches hat. Gleich darauf fasst sie den Riemen seiner Tasche und will ihm das Gepäck abnehmen, was er entrüstet zu verhindern versucht. Sie ziehen ein paarmal hin und her, bis Rita Skura, wie in ihren Augen zu lesen steht, die erste Niederlage des Tages erleidet. Ohne ein weiteres Wort gehen sie nebeneinanderher. Heimlich schaut der Kommissar seine ehemalige Studentin von der Seite an, die steile Falte über der Nasenwurzel, die geschürzten Lippen, mit denen sie im Gehen ab und zu am Becher nippt. Er freut sich, sie wiederzusehen. Schon an der Polizeihochschule mochte er ihren Ehrgeiz, ihr stets vor Anspannung bebendes Kinn, das auf rührende Weise davon kündete, wie ernst man die Welt nehmen kann. Fast beneidete er sie damals um ihre Gutgläubigkeit. Während er nun ihre gefurchte Stirn betrachtet, tut es ihm geradezu leid, dieses kindliche Vertrauen in den ersten Anschein der Dinge mit einem einzigen Hinweis zerstört zu haben. Ihr gepolsterter Scheitel reicht ihm kaum bis zur Schulter. Er hatte sie größer in Erinnerung.
    Rita Skura macht weite Schritte, der Rock des geblümten Kleides schwingt ihr um die Beine wie ein schlagendes Segel im Sturm. Auf der Treppe zur Fußgängerbrücke läuft sie ihm davon und wartet oben, sichtlich erfreut über die Gelegenheit, auf ihn herunterzublicken.
    »Zug verpasst?«, fragt sie. »Nicht aus dem Bett gekommen?«
    »Verzögerungstaktik«, keucht der treppensteigende Erste Kriminalhauptkommissar. »Zur

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