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Schilf

Schilf

Titel: Schilf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juli Zeh
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Welt genauso verloren wie er. Er schenkt dem Rückspiegel ein säuerliches Lächeln. Wenn sie nicht bald ankommen, wird ihm schlecht.
    »In meinem Alter«, sagt Schilf, »bewertet man Verbrechen nicht mehr nach ihrer Prominenz.«
    »Ihre letzten Erfolge sprechen gegen diese Behauptung.«
    »Hören Sie, Rita. Diesen Dabbeling können Sie haben.«
    Sie schafft es nicht ganz, ihre Freude zu verbergen. Schwungvoll biegt sie in die Heinrich-von-Stephan-Straße, reicht dem Automaten an der Einfahrt ihre Berechtigungskarte und parkt, weil die Plätze unter dem Wellblechdach um diese Zeit längst besetzt sind, im Schatten eines Baums. Ihre Hände bleiben auf dem Lenkrad liegen. In der plötzlichen Stille sind die Melodien eines Singvogels in überraschender Lautstärke zu hören.
    »Ich habe nie vergessen, dass ich vom Gegenteil meiner Überzeugungen ausgehen soll«, sagt Rita. »Nach dieser Regel müsste ich Ihnen eigentlich vertrauen.«
    »Sie sind ein gutes Kind«, sagt Schilf.
    Der Moment der Schwäche geht vorbei. Rita stößt die Fahrertür auf, stellt resolut die Füße auf den Boden und wartet mit in die Seiten gestemmten Fäusten darauf, dass der Kommissar mit Aussteigen fertig wird.
    »Es gilt das Folgende«, sagt sie. »Solange Sie hier sind, teilen wir ein Büro. Mein Büro.«
    Sie wirft die Autotür ins Schloss und hält den Kommissar zurück, der auf das Gebäude zugehen will. Er schaut auf sie hinunter und fühlt den Geschmack eines väterlichen Lächelns auf den Lippen.
    »Zwei Dinge noch«, sagt sie. »Erstens: Keine Tricks.«
    »Übrigens habe ich eine neue Freundin«, sagt der Kommissar.
    »Sind Sie sicher, dass das keine Sozialarbeiterin ist, die Sie regelmäßig besucht?«
    »Gar nicht sicher«, sagt Schilf. »Ich hole mir oben die Physikerakte, dann werde ich meinem neuen Fall einen Besuch abstatten. Sie können einstweilen auf meine Tasche aufpassen.«
    »Und zweitens«, schreit Rita ihm hinterher, »in meinem Büro wird nicht geraucht!«
    Dem Rücken des Kommissars sieht man das Lachen an.

Fünftes Kapitel, in dem der Kommissar den Fall löst, ohne dass die Geschichte deshalb zu Ende wäre.
    1
    U m zehn Uhr früh am Samstagmorgen ist Freiburg erst halb erwacht. Noch liegen die Gassen im Schatten. Rings um das Münster drängen sich die Tische und Stühle der Straßencafés in Grüppchen zusammen, als fürchteten sie sich vor dem bald einsetzenden Wochenendbetrieb. Wie Hirten gehen die Kellnerinnen zwischen ihnen umher, scheuchen Stühle auf ihre Plätze, streichen den Tischen über die Rücken, stellen Aschenbecher auf.
    Der Kommissar hat Freiburg nie besonders gemocht. Die Menschen sind ihm zu glücklich und die Gründe ihres Glücks zu banal. Immer riecht es ein wenig nach Ferien, vor allem, wenn die Sonne scheint. Studenten heben ihre Hintern über die Sättel handbemalter Fahrräder. Gebatikte Ehefrauen sind auf dem Weg in ihre Stammboutiquen. An der Tür eines Reformhauses hat sich bereits ein Kinderwagenstau gebildet. Niemand hier sieht aus, als hätte er es nötig, nach dem Sinn des Lebens zu fragen. Nur in einer einzigen Miene entdeckt der Kommissar einen skeptischen Ausdruck. Sie gehört einem blau-gelben Ara, dessen großer Käfig neben dem Postkartenständer am Eingang eines Photogeschäfts steht. So durchdringend schaut der Vogel dem Kommissar entgegen, dass dieser einen Korbsessel in seiner Nähe wählt.
    »Ich heiße Agfa«, sagt der Papagei.
    »Schilf«, sagt der Kommissar.
    »Pass auf«, sagt der Papagei.
    Der Kommissar verscheucht ein Schulmädchen mit grün gefärbten Haaren, das ihn um einen Euro bittet, während es Markenjeans trägt und einen Dalmatiner an der Leine führt. Als Schilf ihr erklären will, dass man sich nicht zugleich an den praktischen Vorzügen des Wohlstands und den moralischen der Armut erfreuen könne, sagt sie ihm, was er, ihrer Ansicht nach, mit seinem Knie anstellen dürfe. Schilf verzieht das Gesicht. In hässlichen Städten wie Stuttgart geben die Leute wenigstens zu, in der Weltentombola das große Los gezogen zu haben.
    »Wir sind noch nicht offen, aber Sie können schon sitzen«, ruft ihm eine Kellnerin zu, die mit mechanischen Bewegungen Speisekarten auf den Tischen verteilt.
    Ergeben hebt Schilf die Hand zum Dank. Die Kellnerin ist wenig älter als das Schulmädchen und trägt ein mit Totenschädeln bedrucktes Tuch um den Kopf, dazu Badeschlappen und einen Minirock, der so kurz ist, dass man ihre rosafarbene Unterhose sieht, wenn sie sich bückt.

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