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Schilf

Schilf

Titel: Schilf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juli Zeh
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Verlängerung der Vorfreude.«
    Verächtlich schnaubt Rita durch die Nase. Sie hat eine Stunde am Bahnsteig gewartet und bei Gott keine Zeit zu verlieren. Als Schilf die letzte Stufe erreicht hat, schaut sie ihn zum ersten Mal richtig an. Ihr wandernder Blick ist schwer zu orten; ihre Miene wie imprägniert von unterdrückter Wut. Der Kommissar überlegt, warum sie nicht hübsch ist, warum bei ihr sämtliche Attribute der Weiblichkeit in der Summe keine schöne Frau, sondern einfach nur Rita Skura ergeben. Die Adern auf ihren Handrücken treten stark hervor und erinnern an Satellitenaufnahmen vom Mündungsdelta des Amazonas, aber daran kann es nicht liegen. Mit gezieltem Schwung wirft sie den Kaffeebecher in einen Mülleimer, hält sich dabei mit der anderen Hand die Nase zu und bläst die Ohren frei. Als würde sie gerade mit dem Flugzeug abstürzen, denkt der Kommissar, während er spürt, wie sich ein Riss durch seine Hirnrinde frisst, von der linken Schläfe zum Ohr. Wir beide sind als seekranke Fische zur Welt gekommen, denkt der Kommissar, ohne zu wissen, was dieser Satz bedeuten soll, und greift nach dem Knauf des Treppengeländers. Unter dem aufwallenden Schmerz schließt er die Augen. Er hört das Schimpfen nachfolgender Passanten, die ihm ausweichen müssen, und sieht Ritas Fuß, der aus einem flachen Sommerschuh schlüpft und die Zehen bewegt, um die Löcher in den Strümpfen zurechtzurücken, dabei kann der Kommissar mit geschlossenen Augen gar nichts sehen, und Rita Skura trägt keine Strümpfe.
    Schilf reißt die Augen wieder auf und starrt der Kommissarin ins Gesicht, erschrocken, weil er nur mit Verzögerung versteht, was sie spricht. Ihre Lippen bewegen sich wie die einer Schauspielerin in einem schlecht synchronisierten Film.
    »Bei mir müssen Sie nicht den Hinfälligen spielen«, sagt sie. »Ich weiß, was Sie draufhaben.«
    »Davon gehe ich aus«, keucht der Kommissar.
    Der Kopfschmerz verschwindet ebenso schnell, wie er gekommen ist. Schilf wischt sich mit dem Ärmel den Schweiß von der Stirn. Mit zusammengezogenen Brauen starrt Rita ihn an, wendet sich unvermittelt ab und läuft los, die Luft mit beiden Armen beiseiteschaufelnd. Schilf muss sich anstrengen, um nicht abgehängt zu werden. In der Eingangshalle besteht er darauf, ein Sandwich zu essen, ohne zu wissen, ob er Hunger hat oder nur Lust, seine Kollegin zu ärgern. Wie er feststellen muss, sind diese beiden Gefühle einander erstaunlich ähnlich.
    Gemeinsam lauschen sie, die Ellenbogen auf die klebrige Platte eines Stehtischs gestützt, dem leisen Quietschen des Mozzarellas, den der Kommissar zwischen den Kiefern zerdrückt.
    »Ich schmore in der Hölle«, sagt Rita in einer Mischung aus Verachtung und Bewunderung, »und Sie essen Käse.«
    Ohne Vorwarnung fällt plötzlich Sonnenlicht in breiten Bündeln durch das gläserne Eingangsportal und macht die Menschen zu Scherenschnitten. Inmitten des biblischen Lichtspektakels zählt eine unbeeindruckte Rita Skura die Hölle, von der sie spricht, an den Fingern her.
    »Medizinerskandal. Geköpfter Radfahrer. Und zu allem Überfluss ein Verrückter, der behauptet, sein Sohn sei entführt worden. Während der Sohn nichts davon weiß.«
    Schilf lässt das Sandwich sinken.
    »So?«
    Ein Tomatenstück, das auf die Tischplatte fällt, nimmt Rita auf, um es in den Mund zu stecken.
    »Irgendein Familienquatsch. Der Typ meldet eine Entführung, und kaum ist der Lauschangriff installiert, ruft das Kerlchen aus dem Ferienlager an und ist wohlauf.«
    »Und der Vater?«
    »Entschuldigt sich tausendmal, zieht die Anzeige zurück und versichert, dass er keine weiteren Ermittlungen wünscht.«
    »Das ist nicht seine Entscheidung.«
    »Weiß ich. Die Sache wird trotzdem im Sand verlaufen. Wir haben Wichtigeres zu tun.«
    »Ach, der Radfahrer«, sagt Schilf. »Um den sollten Sie sich nicht so viele Sorgen machen.«
    Ihr Zeigefinger richtet sich wie eine Waffe auf seine Stirn, direkt auf das Vogelei, denkt der Kommissar und spürt ein leises Pochen.
    »Spielen Sie hier nicht den Supermann«, sagt Rita.
    »Es war nett gemeint.«
    »Falls es Ihnen beim Aktenstudium entgangen ist: Dieser Radfahrer war die rechte Hand von Chefarzt Schlüter. Komischer Zufall, nicht wahr?«
    Der Kommissar unterdrückt ein Gähnen, reicht ihr den Rest seines Sandwichs und wischt sich die Hände an der Papierserviette ab.
    »Die Presse«, sagt Rita mit vollem Mund, »brät uns am Spieß. Die Leute mögen es nicht, wenn die Götter

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