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Schilf

Schilf

Titel: Schilf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juli Zeh
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Fenster, durch das man aus diesem Raum in die Welt hinausblicken kann.
    »Erzählt dir dein Vater von seiner Arbeit?«
    »Er findet es gut, dass ich noch nicht alles verstehe, weil ihm das Erklären beim Denken hilft.«
    »Und es interessiert dich, was er macht?«
    »Ich bin auch Zeitforscher. Früher lag ich oft im Bett und habe versucht, einen Augenblick zu fangen. Ich habe gelauert und dann auf einmal jetzt geflüstert, aber der Augenblick war immer entweder noch nicht da oder schon vorbei. Heute weiß ich natürlich, dass die Zeit ganz anders ist. Und dass die da«, er zeigt auf einen tickenden Wecker neben dem Bett, »alle lügen.«
    »Und was ist die Zeit?«
    Mit unerwartet lebhaften Bewegungen dreht sich Liam um und durchforstet seine Schreibtischschublade, bis er Papier und Stift gefunden hat. Schilf beugt sich über ihn, um besser sehen zu können, spürt den kindlichen Geruch des fremden Scheitels und atmet durch den Mund. Liam malt zwei rote Kreise, eine Handbreit auseinanderliegend.
    »Was ist das?«, fragt er.
    »Keine Ahnung«, sagt Schilf.
    Ungeduldig stößt Liam den Stift aufs Papier.
    »Haben sie miteinander zu tun?«
    »Sie sehen sich ähnlich. Mehr kann ich nicht sagen.«
    »Sehr gut. Und jetzt?«
    Er stellt die Spitze des kleinen Fingers in den einen, den Daumen in den anderen Kreis.
    »Jetzt sind sie verbunden«, sagt der Kommissar.
    »Nun denken Sie mal, wir beide wären die Kreise und das Blatt Papier wäre der dreidimensionale Raum, während meine Hand aus einer unbekannten, höheren Dimension käme …«
    »Du sprichst vom Zufall«, sagt Schilf.
    »Nein«, sagt Liam empört. »Von der vierten Dimension. Sie haben doch nach der Zeit gefragt.«
    »Für die Kreise ist deine Hand der Zufall. Oder ein Wunder.«
    Liam denkt nach.
    »Kann sein.«
    »Hast du dir das allein ausgedacht?«
    »Fast. Mein Vater hat ein bisschen geholfen. Er sagt immer, dass er im Grunde ganz einfache Rätsel lösen will.«
    »Nur leider sind wir«, Schilf tippt erst sich, dann Liam an die Stirn, »nur kleine rote Kreise auf flachem Grund.«
    Obwohl Liams Lachen noch nicht in Faltenfächer fließen kann, sondern sich frische Bahnen suchen muss, offenbart es seine starke Ähnlichkeit mit Sebastian. Genau wie sein Vater fährt er sich mit beiden Händen durchs Haar. Auf seinen Unterarmen sitzt kein einziger Mückenstich.
    »Als Sie klein waren«, fragt er, »sind Sie da auch Forscher gewesen?«
    »Ja«, sagt Schilf. »Ich habe gern mit Insekten gesprochen.«
    »Das hat doch nichts mit Physik zu tun.«
    »Manchmal stand ich stundenlang neben der Regentonne und rettete Bienen, die ins Wasser gefallen waren. Ich dachte darüber nach, was das für die Bienen bedeutet.«
    »Wollten Sie Tierarzt werden?«
    »Für die Bienen war meine Hand das Schicksal. Auch eine Art von vierter Dimension.«
    »Sie sind ein Freak«, sagt Liam.
    Als der Kommissar ihm einen Nasenstüber gibt, ist ihnen das gemeinsame Lachen schon zur leichten Übung geworden. Schilf geht zur Tür. Er fühlt sich unbeschwert.
    »Denken Sie an Ihr Versprechen«, sagt Liam.
    »Kennst du Oskar?«
    »Ja. Oskar ist cool.«
    »Meinst du, ich sollte ihn besuchen?«
    »Auf jeden Fall.«
    Zum Abschied hebt der Kommissar die Hand, und Liam winkt zurück.
    Im Flur hat sich Sebastian nicht von der Stelle gerührt. Die Verwirrung sitzt ihm dicht unter der Haut; er hat murmelnde Stimmen und Gelächter aus dem Kinderzimmer gehört. An ihm vorbei geht Schilf zur Wohnungstür.
    »Auf Wiedersehen«, sagt der Kommissar und noch einmal: »Sie haben mir sehr geholfen.«
    Während Schilf im Treppenhaus die Stufen hinuntertrottet, lösen sich über seinem Kopf die Ziegel vom Dach. Sparren, Schifter und Hängebalken fliegen in alle Richtungen auseinander. Der rasante Schwund des Mauerwerks läuft vom oberen Rand her um das Gebäude wie die sich auflösenden Maschen eines Strickpullovers. Fundamente verschwinden, die Erde schließt sich. Ein Bleistift saugt die Linien einer Bauzeichnung auf, bis das Blatt leer ist. Im Kopf des Architekten verflüchtigt sich die Idee von einem vierstöckigen Gründerzeitbau zu diffusem Nebel. Irgendwo ertönt der grelle Warnschrei eines auffliegenden Kakadus.

6
    G eht’s wieder?«
    »Ja. Die Hitze. Danke für das Wasser.«
    In letzter Zeit ist der Kommissar ständig damit beschäftigt, über sein Befinden Auskunft zu geben und sich bei anderen Leuten für irgendetwas zu bedanken. Das muss, ähnlich wie früh aufstehen, zum Alter gehören.
    Die junge Frau,

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