Schilf
Fernsehen.«
Das Buch klappt zu, Liam dreht sich mit dem Sessel herum.
»Ich bin klein, aber nicht blöd«, sagt er. »Sie können ganz normal mit mir reden.«
Schilf schaut in Liams besorgte Miene und fragt sich, wie alt der Junge sein mag. Sein weiches Haar ist vom langen Schlafen zerdrückt und zeigt an manchen Stellen die Kopfhaut. Das Gesicht darunter ist ernst und aufmerksam. Plötzlich fürchtet Schilf, dass ein Kind mit seinen feinen Ohren die Stimme des Beobachters hören könnte, die gerade fragt, ob die feinen Ohren eines Kindes die Stimme des Beobachters hören können. Und ob Liam deshalb so merkwürdig guckt.
»Tut Ihnen was weh?«, fragt der Junge.
Schilf schaut sich nach einer Sitzgelegenheit um und wählt den Rand des ungemachten Betts.
»Nein«, sagt er. »Im Moment nicht.«
Liam legt das Buch beiseite, wodurch er drei Jahre jünger wird, und dreht den Stuhl noch ein Stück, bis sie so nah voreinander sitzen, dass sich ihre Kniescheiben fast berühren.
»Was machen Sie hier?«
»Ich ermittele in deiner Entführung.«
Schweigend mustert Liam seine Finger, als überlegte er, ob die Nägel mal wieder geschnitten werden müssten.
»Stimmt«, sagt er schließlich. »Die Entführung.«
»Bist du sauer, weil du das Ferienlager abbrechen musstest?«
»Was heißt sauer.« Jetzt reibt er sich so heftig die Augen, dass Schilf ihn am liebsten an den Handgelenken festhalten würde. »Mein Vater hat mich heute früh einfach abgeholt. Er war ganz komisch und sagt mir nicht, was los ist.«
»Das kenne ich«, sagt Schilf. »Mir sagt auch niemand, was los ist. Aber solche wie uns muss es auch geben.«
Ein Lächeln erscheint auf Liams Gesicht und lässt ihn nett aussehen, nicht nur frühreif und intelligent. Etwas Hilfloses liegt in seinen Augen, wie bei einem kleinen Tier, das eine Katastrophe herannahen sieht, der es nichts entgegenzusetzen hat.
»Werden Sie das alles aufklären?«
»Mit allergrößter Wahrscheinlichkeit.«
»Versprochen?«
»Versprochen.«
Weil der Junge zu Boden schaut, um das Glitzern in seinen Augen zu verbergen, legt Schilf ihm eine Hand auf die Schulter.
»Liam«, sagt er. »Bist du auf dem Weg nach Gwiggen entführt worden?«
»Hat mein Vater das gesagt?«
»Antworte einfach.«
»Mein Vater lügt nicht. Er liebt die Wahrheit über alles.«
»Zuerst liebt er dich«, sagt der Kommissar. »Danach die Wahrheit.«
Als Liam den Kopf hebt, sieht er wieder wie ein geschrumpfter Erwachsener aus.
»Wenn ich sagen würde, dass ich nicht entführt wurde, und mein Vater behauptet das Gegenteil – kann dann beides wahr sein?«
»Ja«, sagt der Kommissar prompt.
»Dann sage ich, dass ich nichts von einer Entführung weiß.«
»Wer hat dich nach Gwiggen gebracht?«
»Mein Vater.«
»Bist du sicher?«
»Ich habe geschlafen. Als ich aufgewacht bin, war es schon dunkel und ich lag in einem fremden Bett. Steht so was nicht in der Akte?«
»Mehr oder weniger.« Mit einer schnellen Bewegung wischt sich Schilf das Lachen von Mund und Kinn. »Aber es ist mein Job, Dinge zu fragen, die ich sowieso schon weiß. Kann es sein, dass du einen sehr festen Schlaf hast?«
»Kinder sind so«, sagt Liam in vollem Ernst. »Außerdem machen die Reisepillen müde.«
»Kann ich die Dinger mal sehen?«
»Ich hatte nur eine für hin und eine für zurück.«
Der Kommissar nickt und schaut über Liams Kopf hinweg auf eine Graphik, die unter Glas an der Wand hängt. Auf dunkelblauem Untergrund zeigt sie in der rechten unteren Ecke eine Abbildung des Sonnensystems. Durch einen Pfeil wird die Sonne mit ihren Planeten als ein winziger Punkt in einer Gruppe von zwanzig Fixsternen ausgewiesen. Diese Fixsterne fasst ein weiterer Pfeil zu einem kaum noch erkennbaren Partikel zusammen, das im Sternendunst der Milchstraße verschwindet. Die Milchstraße wiederum bildet ein fingernagelgroßes Häufchen in einer übergeordneten Ansammlung von Galaxien, die gemeinsam mit Unmengen von anderen Galaxien-Ansammlungen in einem Super-Cluster aufgeht. Dieses Super-Cluster schließlich stellt nicht mehr als einen kleinen Nebel im gesamten bekannten Universum dar, welches, abgebildet als eine große, dunstige Scheibe, die Graphik wie ein Deckel schließt. Darüber steht ein Satz: Galaxien sind für einen Astronomen, was Atome für den Kernphysiker sind.
Als Schilf den Fokus seines Blicks verändert, spiegelt das Glas über dem dunklen Hintergrund sein Gesicht. Es kommt ihm vor, als wäre dieses Bild das einzige
Weitere Kostenlose Bücher