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Schilf

Schilf

Titel: Schilf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juli Zeh
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vom Fleck weg kaufen würde. Dieses Kunstwerk ist sie selbst. Während sie den Blick erwidert, wird sie ruhig, immer ruhiger, fast als ginge sie ohne jede Angst vor dem Sterben in einen inneren Tod. Sie wird diesen Blickwechsel länger durchhalten. Sie kann bis in alle Ewigkeit aufs Zwinkern verzichten. Ihr bleibt die Form, die immer in der Lage ist, den Inhalt zu überdauern.
    »Was kann ich für Sie tun?«
    Maikes Frage gelingt perfekt. Die Rothaarige sitzt an einem Schreibtisch neben der Eingangstür, trägt eine große Brille und blättert in Zeitlupe in einem Aktenordner. Der Kommissar verlagert das Gewicht. Seine nächste Sitzhaltung, einen Arm über die zu hohe Lehne gelegt, ist ebenso verrenkt wie die erste.
    »Ich komme wegen Erpressung I und II.«
    Maikes Gesicht ist eine schattenlose Fassade.
    »Sie waren in meiner Wohnung?«
    »Bloß kurz.«
    »Merkwürdig, dass Sie von diesen Bildern sprechen.«
    Durch die Tür zum Hof dringen die Stimmen der Sittiche herein, die damit fortfahren, die Szene zu kommentieren. Maike wechselt die Anordnung ihrer Beine.
    »Als ich heute aus dem Urlaub zurückkam, war an der Wand neben Erpressung I und II ein Wasserfleck in der Form einer Hand.«
    Schilf antwortet nicht. Den Wasserfleck hat er bemerkt.
    »Mein Mann hat eine Blumenvase an die Wand geworfen, weil … Verzeihen Sie.« Maike ruckt mit dem Kinn. Zum ersten Mal zeigen ihre Lippen den Anflug eines Lächelns. »Kein guter Tag. Überall Zeichen.«
    Das Lächeln vertieft sich; es hat die Kraft, dem Kommissar das Herz im Leib umzudrehen.
    »Hinter den Bildern verbirgt sich eine traurige Geschichte. Die Welt ist voll davon.«
    »Von Bildern oder von traurigen Geschichten?«
    »Vielleicht ist das dasselbe.«
    »Da könnten Sie recht haben.«
    »Wollen Sie die Geschichte hören?«
    »Unbedingt.«
    »Es ist das letzte Werk des Künstlers. Er hat vierzig Pfund Öl auf die Leinwand gebracht. Gemalt wie zum Verwerten der Restbestände. Danach hat er sich von der Malerei zurückgezogen.«
    Maike erzählt, leise und schnell. Der Künstler, ein Lieblingskind der Musen und Maikes höchstpersönliche Entdeckung, verliebte sich eines Tages in einen jungen Kerl. Der zog bald bei ihm ein. Die Beziehung der beiden war in der Lage, jede Parkbank in den Schauplatz einer griechischen Tragödie zu verwandeln. Während der Künstler außer einem Paar wahnhaft leuchtender Augen nichts Auffälliges an sich hatte, schien sein Freund nach den Skizzen eines Michelangelo gefertigt. Schmal, dunkel, biegsam. Reiner Körper, keine Seele.
    Auf Vernissagen sah man den Jungen anmutig durch die Räume streichen. Er war nur darauf bedacht, die Aufmerksamkeit der Gäste von der Ausstellung abzulenken. Männer und Frauen blickten ihm nach. Wenn der Abend gut lief, wurde mehr über ihn gesprochen als über die Bilder. Er mochte die Arbeit seines Liebhabers nicht. Er mochte überhaupt keine Kunst. Er glaubte, die Kunst sei nur in der Welt, um der Schönheit des Lebens den Rang abzulaufen. Womit er vor allem seine eigene Schönheit meinte.
    »Wissen Sie, was Eifersucht ist?«, fragt Maike.
    »Vom Hörensagen«, behauptet der Kommissar.
    Es vergingen zwei Jahre. Stolz trug der Junge seine Blutergüsse zur Schau. Als die Kämpfe keine weitere Steigerung mehr erlaubten, stellte der Junge ein Ultimatum. Die Bilder oder er.
    »Der Maler hat sich für die Liebe entschieden«, vermutet Schilf.
    »Falsch geraten«, sagt Maike.
    Der Künstler wählte die Kunst. Er jagte seinen Geliebten zum Teufel, verarbeitete seine Verzweiflung in Farbe und schuf Erpressung I und II. Danach folgten die Musen seinem jungen Freund und verließen ihn.
    »Er hat nie wieder etwas von Bedeutung auf die Leinwand gebracht«, sagt Maike. »Manchmal ist Liebe eine Form von Zerstörungswut.«
    Sie fährt sich mit dem kleinen Finger in den Augenwinkel, als müsste sie einen Fremdkörper entfernen. Niemand fühlt sich für die nächsten Sätze zuständig. Während Maike ihre Fußspitzen mustert, spielt das Gedankenorchester in Schilfs Kopf eine polyphone Sinfonie aus Fragen, die er zu stellen, und Aussagen, die er zu treffen hätte. Philosophisches über die Architektur von Schicksalsschlägen. Erkundigungen nach dem Preis der Bilder, für die er sich angeblich interessiert. Belangloses zur Papageienzucht. Als er endlich den Mund aufmacht, hat er von allen denkbaren Wortfolgen die verderblichste zusammengestellt.
    »Wie kommen Sie mit Ralph Dabbelings Tod zurecht?«, fragt er.
    Kaum dass der

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