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Schilf

Schilf

Titel: Schilf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juli Zeh
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Teilchen vor dem Moment ihrer Beobachtung nicht in einem, sondern in vielen, einander überlagernden Zuständen vorliegen, ist die Multiversen-Idee nicht nur eine philosophische Bequemlichkeit, sondern eine konsistente Interpretation. Darüber hinaus lässt sie dem Menschen seinen freien Willen. Denn es ist egal, wie stark wir von Ursache-Wirkung-Mechanismen innerhalb der einzelnen Welten dominiert sein mögen – solange wir durch unsere Handlungen immer neue Universen hervorbringen können. Dadurch bleiben wir in unseren Entscheidungen frei.
    Das sind die Vorteile der vielen Welten. Ihre Nachteile verwandeln selbst friedliebende Physiker in cholerische Besserwisser. Das sei, schimpfen sie, nichts anderes als ein krampfhafter Versuch, um den intelligenten Designer herumzukommen. D’accord, sage ich! Eine solche Behauptung, lästern die Besserwisser, verlasse den Bereich überprüfbarer Annahmen. Von mir aus, ebenfalls d’accord! Sie haben alle recht, die Kritiker der Multiversen genauso wie ihre Verfechter, und auf die gleiche Weise irren sie. Alle gemeinsam. Weil sie nämlich alle, ja, hören Sie gut zu, weil sie alle Materialisten sind.
    Ich lese Verwunderung in Ihren Augen. Ich will Sie verblüffen: Der Streit um die Viele-Welten-Interpretation ist mir völlig gleichgültig.
    Sie verziehen keine Miene? Sie sind ein harter Brocken, Herr Kommissar. In einem Verhör – ich weiß, Befragung – soll man alles sagen, nicht wahr? Ich werde Ihnen erzählen, womit ich mich tatsächlich beschäftige. Ich wette, Sie haben bei der flüchtigen Durchsicht meines Schreibtischs – Yogi-Tee, eine hübsche Idee! – keines der geistigen Verbrechen begriffen, die sich dort täglich zugetragen haben.
    Nehmen Sie hiermit mein Geständnis zu Protokoll: Ich bin Naturwissenschaftler, aber kein Materialist. Was ich bin, weiß ich noch nicht. Jedenfalls halte ich nicht nur Raum und Zeit, sondern selbst die Materie für ein Erzeugnis der Produktionsgenossenschaft Sinn-und-Verstand. Meine Welt setzt sich nicht aus festen Gegenständen, sondern aus komplexen Prozessen zusammen. Alle Zustände und Verlaufsformen sind zeitgleich und damit zeitlos vorhanden. Was wir davon sehen, sind Ausschnitte. Bilder einer Filmrolle, die an dem Zeitprojektor hinter unserer Stirn vorbeigezogen werden. Sie zeigen uns die Wirklichkeit als einen Tanz konkreter Dinge.
    Machen Sie ein Experiment, Schilf. Packen Sie einen Photoapparat ein. Stellen Sie sich bei Nacht auf das Dach eines Hochhauses. Wählen Sie eine Belichtungszeit von mehreren Sekunden und photographieren Sie eine Straßenkreuzung. Was sehen Sie? Die Lichter von Autos und Straßenbahnen, und zwar als gerade oder wellenförmige Striche. Ein Netz aus Linien. Je länger Sie die Belichtungszeit einstellen, desto dichter wird das Netz.
    Und jetzt nehmen Sie diese Teetasse. Stellen Sie sich vor, Sie könnten von hoch oben ein Bild von ihr schießen, das eine Million Jahre belichtet wurde. Es würde keine Tasse zeigen, sondern ein undurchdringliches Geflecht. In der Mitte wäre ein heller, an den Rändern ausfransender Fleck, dort, wo Kaolin im Boden entsteht. Ringsum die Spuren der Menschen, die das Kaolin abbauen und zu Porzellan verarbeiten. Das Werden der Tasse. Ihr Transport. Ihr Gebrauch. Ihr Verfall. Die Rückkehr ihrer Bestandteile in den Kreislauf. Ebenso erkennen Sie – wir sind sehr hoch oben, wir schauen aus der ultimativen Vogelperspektive – die Entstehens- und Vergehensgeschichten aller an der Tassenherstellung und Tassenbenutzung beteiligten Personen. Dazu die filigranen Netze jener Wesen und Gegenstände, die mit den Tassenmenschen zu tun hatten oder haben oder haben werden. Sowie deren Vorfahren und Nachfahren und so fort. Sie sähen – nein, schauen Sie nicht zur Seite, schauen Sie die Tasse an! Sie sähen, dass diese Tasse über die Grenzen von Zeit und Raum hinweg mit schlichtweg allem in Verbindung steht, weil schlichtweg alles Teil ein und desselben Prozesses ist. Und wenn Sie nun die Belichtungszeit auf unendlich lang und die Entfernung auf unendlich weit stellen könnten, dann würden Sie die Realität erblicken, wie sie tatsächlich ist. Ein zeit- und raumloses Ineinanderfließen. Ein dicht gewebter Bettvorleger vor der Schlafstätte eines Gottes, den es nicht gibt. Amen.
    Sind Sie noch da? Können Sie mich hören? Ich wollte Sie nicht erschrecken. Haben Sie Kopfweh? Soll ich eine Tablette holen?
    Natürlich, es geht schon wieder. Es geht ja immer wieder. Das

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