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Schilf

Schilf

Titel: Schilf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juli Zeh
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gehört zu den Dingen, die ich in den letzten Tagen gelernt habe.
    Erlauben Sie mir noch eine letzte Bemerkung. Ein paar Worte zum Zufall, bei dessen Erwähnung Ihre Augen so geleuchtet haben. Falls auch Sie, Schilf, wie ich vermute, kein Materialist sind, werden Sie mit dem folgenden Zusammenhang etwas anfangen können.
    Nehmen wir an, der Mensch steht vor der Wirklichkeit wie ein Spaziergänger am Ufer eines ruhigen Sees. Die glatte Oberfläche spiegelt eine ihm bekannte Welt und verbirgt die Ereignisse am Grund. Nun schwimmt ein großer Ast unter dieser Oberfläche, und nur die Spitzen von zwei einzelnen Zweigen tauchen an verschiedenen Stellen aus dem Wasser. Unser Spaziergänger wird das nicht als ein groteskes Zusammentreffen empfinden. Er wird zutreffend davon ausgehen, dass die Zweige unter Wasser miteinander in Verbindung stehen. Ohne es zu merken, hat er begriffen, was Zufall ist.
    Sie haben Ihren Tee gar nicht getrunken, Herr Kommissar. Wollen Sie schon gehen?«

5
    D ass Sebastian all dies erzählt haben soll, hält der Kommissar, dessen Augen selbstverständlich zu keinem Zeitpunkt leer gewesen sind, für unwahrscheinlich. Aber irgendetwas wird der Professor gesagt haben, und den Rest hat Schilf aus eigener Kraft ergänzt. Während des ganzen Vortrags hat er in seiner Tasse gerührt, als erwartete er ein weiteres Todesurteil. Jetzt steht er leicht schwankend im Raum wie eine mühsam in die Balance gebrachte Puppe. Er kämpft gegen den Kopfschmerz und wartet darauf, dass sich in ihm eine jener Fragen entwickelt, derentwegen er hergekommen ist.
    »Wer nennt Sie einen Esoteriker?«, fragt er schließlich.
    »Oskar«, sagt Sebastian.
    Er sieht den Kommissar aus hellen Augen an, seine Gesichtsfarbe hat sich verbessert, und die Art, wie er mit allen zehn Fingern eine Klaviersonate auf den Oberschenkeln spielt, zeigt, dass ihm das Reden gut getan hat.
    »Wer ist das?«
    »Eine hervorragende Frage.«
    Mit schief gelegtem Kopf horcht Sebastian in die Luft, als wollte er dem Geschrei der Meisen im Blauregen die richtige Antwort ablauschen. Lieblingsmensch, zwitschert es. Lieblingsmensch.
    »Ein großartiger Physiker, der in Genf am neuen Teilchenbeschleuniger arbeitet. Wenn Sie sich für Physik interessieren, fahren Sie hin. Dort wird dem Universum in die Eingeweide geschaut.«
    »Von Materialisten, nehme ich an.«
    »Sie haben es erfasst.« Sebastian lacht. »Wobei ich mir da bei Oskar gar nicht mehr sicher bin. Gestern erst habe ich darüber nachgedacht, ob wir einander nicht ein Leben lang missverstanden haben.«
    Der Kommissar schaut ihn eine Sekunde zu lange an, bevor er nickt.
    »Bringt so ein Teilchenbeschleuniger auch praktischen Nutzen?«, fragt er.
    »Oskar würde antworten: Als Abfallprodukt. Die Medizin zum Beispiel verwendet beschleunigte Teilchen zur Bestrahlung von Tumoren.«
    »Sieh mal an.«
    Schilfs Schwanken wird stärker. Er fasst nach dem Sessel und bekommt ein Schweizer Taschenmesser in die Finger, das seitlich im Leder des Möbelstücks steckt. Er legt es auf den Couchtisch. An der ausgeklappten Klinge klebt Blut. Der Kopfschmerz ist plötzlich wie weggeblasen. Als hätte jemand einen Schalter umgelegt.
    »Sie haben mir sehr geholfen«, sagt der Kommissar.
    Nachdenklich betrachtet Sebastian das kleine Messer und überlegt, ob es ein Indiz darstellt und wenn ja, wofür. Alle Energie hat ihn mit einem Schlag wieder verlassen, und als er endlich aufschaut, ist der Kommissar schon im Flur. Er geht nicht Richtung Ausgang, sondern tiefer in die Wohnung hinein.
    »Die Tür«, ruft Sebastian, ihm nachlaufend, »ist da vorn!«
    »Bevor ich gehe, möchte ich Ihren Sohn kennenlernen.«
    »Aber der schläft.«
    »Nicht mehr.«
    Mit den Augen zwinkernd wie ein Kinobesucher, der nach dem Besuch einer Nachmittagsvorstellung ins Tageslicht tritt, bleibt Sebastian im Flur zurück, während Schilf das Kinderzimmer ansteuert und die Klinke drückt.
    Liam sitzt in einem Schreibtischsessel, in den er noch hineinwachsen muss, und hält ein aufgeschlagenes Buch vor sich, in dem er nicht gelesen hat. Das Zimmer ist düster und so klein, dass die Möbelstücke drängelnd aneinanderstoßen. Ein Streifen Licht, der durch die Vorhänge fällt, überzieht Liams Scheitel mit einer Legierung aus Silber und Gold. Ein Engel mit Sonnenkrone. Schilf schluckt, um die Rührung zurückzudrängen.
    »Hallo«, sagt er nach einem Räuspern. »Ich bin von der Polizei.« Und weil Liam nicht reagiert: »Ein richtiger Kommissar. Wie im

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