Schilf
Auf beiden Seiten stapelt sich der Wald als ein dreidimensionales Puzzle bis in den Himmel.
Wie leicht es ist, die beiden Hälften voneinander zu scheiden, denkt Schilf. Hier und dort, vorhin und jetzt, Leben und Tod. Das geht überall. Mit einem einfachen Strick.
Die Luft schmeckt klar und trinkbar wie Wasser. Dazu das unausgesetzte Plaudern der Vögel. Man sollte öfter im Freien ermitteln, dachte der Kommissar, denkt der Kommissar.
Nach einer flüchtigen Besichtigung des Drahtseilabriebs an der Rinde schlägt er sich in die Büsche. Er durchquert den Graben, löst die Krallen der Brombeeren behutsam aus dem Stoff seines Hemds und rutscht, eine Hand am Boden, die Böschung hinunter. Unübersehbar die Spuren der Spurensucher: Gipsreste von Fußabdrücken, abgegrabener Boden, ausgeschnittenes Geäst. Mit beiden Armen teilt Schilf den Farn und taucht in einem Moment, der ihm passend erscheint, unter die grüne Oberfläche. In der Hocke kauernd, sieht er sich um. Er ist umstellt von haarigen Stängeln, an denen bräunlich eingerollte Blätter wie Schneckenhäuser haften.
Vom Abstieg ist ihm heiß geworden. Das Hemd haftet am Rücken, an der Oberlippe findet die Zunge Salz. Schilf krempelt die Ärmel auf und wartet. Er war überzeugt, dass dieser Ort etwas zu berichten habe, etwas, das die Spurensucher nicht finden konnten, weil es nicht aus Hautschuppen und Haaren besteht. Die Geschichte einer Grenzüberschreitung. Eine Geschichte davon, wie dünn die Membran ist, die das Leben eines Menschen zusammenhält. Schilf will wissen, wie es ist, wenn ein Mensch darauf wartet, dass ein anderer stirbt. Ameisen bilden ein dunkles Häufchen auf dem Leib einer Schmetterlingsraupe, die sich plump hin und her windet, während ihr Körper in Stücken davongetragen wird. Sonst ist da nichts, das dem Kommissar beim Verstehen behilflich wäre.
Ein spiralförmiger Ton schraubt sich in seine Gehörgänge. Da kommen die Mücken, um jene Zeugenaussage zu leisten, die Schilf noch braucht, um ganz sicherzugehen. Sieben landen auf dem rechten Unterarm und stechen sofort zu. Der Kommissar springt auf und schlägt nach ihnen. Die Überlebenden greifen ohne Zögern erneut an, erhalten Unterstützung von unsichtbaren Kollegen, kitzeln im Nacken, stechen wieder und wieder in Arme und Hände. Hastig rollt Schilf die Ärmel herunter, schüttelt die Hosenbeine aus und wischt sich durchs Gesicht. Als er sich beruhigt hat, entdeckt er einen kleinen Mann, der in einiger Entfernung wie eingegraben im Farn steckt und den Veitstanz des Kommissars gelassen beobachtet hat. Die Begegnung ihrer Blicke setzt die bauchige Gestalt in Bewegung.
»Elende Schmarotzer, was?«
Der Schmetterlingssucher kommt näher und hebt einen belehrenden Zeigefinger.
»Das sind die Ratten unter den Hexapoden. – Sechsfüßler«, ergänzt er, weil Schilf nichts sagt.
Der Kommissar betrachtet seine Handrücken, auf denen sich die ersten Schwellungen bilden. Er überlegt, wie es wäre, die Stiche mit einer Messerklinge blutig zu kratzen und danach mit ausgestreckten Armen ins Büro des Leitenden Oberstaatsanwalts zu stolzieren: Schauen Sie her, ich bringe Ihnen den entscheidenden Beweis! – Leise fängt er an zu lachen. Es wäre sicher der erste Fall in der Kriminalgeschichte, der aufgrund eines unerträglichen Juckreizes entschieden würde.
»Spotten Sie über meine Ausrüstung?« Der Schmetterlingssucher bleibt stehen. »Ein Fangnetz. Und hier, eine Reuse, die dem Leben ähnelt. Man kommt leicht hinein und nur schwer wieder heraus.«
Der Kommissar ist damit beschäftigt, Spucke auf seinen Unterarmen zu verteilen.
»Viel los hier in letzter Zeit«, sagt der Schmetterlingssucher. »Die Polizei verschreckt mir die Kundschaft.« Im Gesicht des Mannes vereinen sich viele kleine Falten zu einer großen Sorge. Anklagend zeigt er auf einen laternenförmigen Käfig. »Sehen Sie: leer!«
»Was suchen Sie denn?«
»Sechsbeinige Spezialitäten.« Der kleine Mann streckt die Hand aus. »Franz Drayer. Rentner und Hobby-Lepidopterologe auf dem Weg in die Unsterblichkeit. Und was suchen Sie?«
»Einen zweibeinigen Spezialfall.«
»Groß, blond, freundliches Gesicht?«
»Sie haben ihn gesehen?«
»Saß vor ein paar Tagen im Farn. Fast an derselben Stelle wie Sie.«
»Danke«, sagt der Kommissar. »Sie haben mir sehr geholfen.«
»Sie lesen von mir in den einschlägigen Fachmagazinen!«
Schilf grüßt zurück und entlässt einen Zeugen, auf den es nicht ankommt, in die
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