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Schilf

Schilf

Titel: Schilf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juli Zeh
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verhält sich wie eine zu Boden geduckte Kaninchenfamilie, nachdem ein Raubvogel eines aus ihrer Mitte gerissen hat. Im Grunde kann sie es ihnen nicht einmal übel nehmen. Draußen wird gequält und gemordet, während hier drinnen die Lebensrettungsindustrie niemandem Zeit lässt, auch nur den Blick vom Fließband zu heben.
    Sie klappt ihr Handy auf und ruft Schnurpfeil an, dessen gehorsame Stimme ihr in den schlimmsten Situationen den Seelenfrieden rettet. Natürlich, er kommt sie abholen, in einer halben Stunde, und das mit dem größten Vergnügen. Einstweilen, fügt er schüchtern hinzu, soll sie in der Krankenhauscafeteria ein Putensandwich bestellen, damit sie nicht wieder das Mittagessen vergisst.
    Rita nimmt den Aufzug und starrt, während der Fahrstuhl durch die Etagen fällt, im Spiegel in ihr eigenes, neongraues Gesicht. Wenn die Freiburger Polizei übers Wochenende keine nennenswerten Ergebnisse liefert, macht die Presse dem bürstenhaarigen Innenminister die Hölle heiß, woraufhin dieser dem schnauzbärtigen Polizeipräsidenten den Hals umdreht und so fort. Rita ist, wie sie sehr gut weiß, das letzte Glied in der Nahrungskette.
    Als sich die Türen des Aufzugs öffnen, erwartet sie ein Anblick, der nicht geeignet ist, ihre Laune zu heben. In der weitläufigen Eingangshalle herrscht spärlicher Betrieb. Besucher durchqueren den Raum mit hastigen Schritten. Irgendwo plätschert ein nihilistischer Zimmerspringbrunnen, in dessen Bassin ein paar Goldfische schwimmen. Die üblichen Zimmerpalmen unterstützen den Eindruck von frisch geputzter Vergeblichkeit. Links vom Eingang befindet sich die Cafeteria mit ihren roten, gelben und blauen Stühlen.
    Inmitten der grellen Pracht, genau an der Stelle, wo zwei Wellen des Bodenfliesenmusters aufeinandertreffen, hockt der Erste Kriminalhauptkommissar Schilf mit rundem Rücken auf einem besonders gelben Stuhl und tippt auf dem Display eines Geräts herum, das er sich dicht vor die Augen hält. Ein Greis, der in die Krabbelecke eines Einkaufszentrums geraten ist. Als ein Patient vorbeigeht, auf dessen Teller drei Kuchenstücke liegen, folgt ihm der Kommissar mit Blicken. Es sieht aus, als hielte er nach einem Bekannten Ausschau.
    Rita beobachtet ihn aus der Distanz, bis sich der Wunsch, ihn mit Desinfektionsmittel zu besprühen und wie ein großes Bazillus am Boden verenden zu sehen, in eine unappetitlich bildliche Phantasie verwandelt hat. Schilf scheint sie gar nicht zu bemerken, als sie herankommt und neben ihn tritt.
    »Was zum Teufel machen Sie hier?«
    »Schach«, antwortet der Kommissar, ohne den Kopf zu heben. »Einer der edelsten Versuche des Menschen, sich selbst zu vergessen.«
    »Funktioniert es?«
    »Weder die Partie noch das Vergessen.«
    Er seufzt. Bis gerade eben ist Rita Skura ganz selbstverständlich davon ausgegangen, der Kommissar sei ihretwegen hier; um sie zu stören, zu überwachen, schlimmer noch, ihr zu helfen. Als er ein zweites Mal seufzt und sich nervös nach dem dumpfen Pochen eines Krückenpaars umsieht, ist sie nicht mehr sicher. Schilf macht den Eindruck, in eigener Sache gekommen zu sein.
    »Suchen Sie jemanden?«
    Wie ertappt schüttelt er den Kopf, richtet sich auf und versucht, eine würdige Haltung einzunehmen.
    »Ach, nein«, sagt er. »Wahrscheinlich fürchte ich, hier einen zweiten Schilf zu entdecken, wie er in einem schäbigen Morgenrock um die Ecke schlurft.«
    »Sollte ich jemals ins Krankenhaus müssen«, sagt die Kommissarin, »werde ich ausschließlich Abendkleider tragen.«
    »Das glaubt jeder, Rita-Kind. Und wenn es so weit ist, verwandelt man sich trotzdem in ein heruntergekommenes Abbild seiner selbst.«
    »Woher wollen Sie das wissen?«
    »Allwissenheit gehört zu den wichtigsten Eigenschaften eines guten Kommissars.«
    Verdrießlich stößt Rita Luft durch die Nase und geht zur Theke, wo sie toten Vogel auf Brot bestellt. Der Kellner lacht nicht; sie hatte es auch nicht als Witz gemeint.
    »Wie läuft es?«, fragt Schilf, als sie sich zu ihm an den Tisch setzt.
    »Grauenvoll.« Das Brötchen fällt beim ersten Bissen auseinander. »Ärzte verraten eher die eigene Großmutter als einen Kollegen. Nicht auszuschließen, dass ich diese Weisheit von Ihnen habe.« Rita leckt sich Mayonnaise vom Handgelenk. »Übrigens haben wir eine Abmachung. Klare Trennung der Sachbereiche. Auch wenn ich mich wiederhole: Was zum Teufel machen Sie hier?«
    »Was würden Sie tun, wenn Sie wüssten, dass Sie bald sterben müssen?«
    Das

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