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Schilf

Schilf

Titel: Schilf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juli Zeh
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grobkörnigen Pulver. Er wirft zerstückelte Chilischoten und Ingwer in den Häcksler; quetscht Knoblauch und hätte fast vergessen, die Garnelen zum Auftauen ins Wasser zu legen. Ab und zu bückt er sich und nimmt eine weitere Zutat aus den beiden Einkaufstüten, die wie Haustiere zu seinen Füßen kauern und mit jedem Griff etwas von ihrem prallen Umfang verlieren. Vor zehn Minuten ist Liam hereingekommen und bekämpft seitdem seine übliche Ungeduld vor dem Abendessen, indem er Gläser und Geschirrteile einzeln vom Schrank zum Küchentisch trägt, den Salzstreuer nachfüllt und ständig um neue Aufträge bittet.
    »Warum essen wir hier?«
    »Das ist gemütlicher.«
    In Wahrheit traut sich Sebastian ein Zusammensitzen in der vertrauten Umgebung des Esszimmers nicht zu.
    »Du kannst den Tisch decken«, sagt er zum dritten Mal.
    Das geputzte Gemüse leuchtet in appetitlichen Ampelfarben und hat damit den optischen Höhepunkt seines Daseins erreicht, bevor es gemeinsam mit den Garnelen in einer rötlichen Masse untergehen wird. Als Liam an den Herd tritt, um in die Töpfe zu gucken, streicht Sebastian ihm über den Kopf und schluckt, als er bemerkt, wie perfekt die Rundung des Kinderschädels in die Schale seines Handtellers passt. Unbemerkt schaut er seinem Sohn von der Seite ins Gesicht. Er betrachtet die glatte Kinderstirn, die feine Nase mit den gewölbten Flügeln, die hellen Augen, an deren Grund bereits die Schatten einer ebenso anziehenden wie gefährlichen Tiefe zu ahnen sind, und spürt, wie ihm bei diesem Anblick etwas Schweres in den Magen sinkt. Er erschrickt vor der Größe einer Zuneigung, die in der Lage ist, ihn, den erwachsenen Mann mit all seinen komplizierten Erinnerungen, Überzeugungen, Hoffnungen und Ideen ins Zeit- und Ortlose fortzuschwemmen, wo außer den Strömungsgesetzen der Liebe nichts mehr gilt. Während Liam mit einem Fingerschnippen einen Kochlöffel in wirbelnde Bewegung versetzt, erlebt Sebastian mit schmerzhafter Deutlichkeit das potentielle Nicht-mehr-Sein, das allen Wesen und Dingen innewohnt. Ab jetzt ist Liam immer auch als die Abwesenheit von Liam denkbar und als solche schwer zu ertragen. Sebastian ist untrennbar an einen Anti-Liam gekettet, dessen sichtbarer Körper das schlecht schließende Tor am Eingang zur Hölle darstellt. Seit Sebastian seinen Sohn wieder hat, kostet es enorme Anstrengung, ihn nicht aus dem Zimmer zu schicken.
    »Verflucht!«
    Er war dumm genug, sich die Augen zu reiben. Der Saft von Chili und Zwiebeln tut seine Wirkung und zwingt Sebastian an die Spüle, wo er sich mit kaltem Wasser das Gesicht wäscht.
    Schon als Maike die Wohnungstür aufschließt und in den Flur tritt, steigt ihr der Essensduft in die Nase. Es riecht nach Versöhnung. In der Küche steht Sebastian mit verquollenen Augen und roter Nase am Herd, während Liam mit dem Finger auf ihn zeigt und sich vor Lachen biegt. Die Spucke zwischen seinen Zähnen ist von heimlich genaschten Paprikastücken grün verfärbt. Maike bleibt im Türrahmen stehen, will mit Liam lachen und mit Sebastian heulen und fragt sich, warum sie sämtliche Räume der Galerie auf den Knien gewischt hat, nur um den Moment des Nachhausekommens immer weiter hinauszuzögern.
    »Was ist denn hier los?«, fragt sie und geht in die Knie, um Liam aufzufangen, der sich in ihre Arme stürzt.
    »Papa hat Thailand in den Augen!«
    Liam lässt sich einen Kuss geben und läuft zurück zum Herd, wo er, auf Zehenspitzen stehend, mit einer Hingabe im Reis rührt, als verbände ihn die zähe Masse über den Kochlöffel mit dem Boden der Normalität.
    »Wie war dein Tag?«, fragt Sebastian, und für einen kurzen Augenblick sieht es tatsächlich aus, als wäre alles wie immer.
    Dieses Wie-immer ist das Schlimmste, was Maike im Moment passieren kann. Sie fällt auf einen Stuhl und lächelt hilflos in die sich ausbreitende Sprachlosigkeit hinein. Sie fühlt sich, als wäre sie nicht ein paar Tage, sondern jahrelang fort gewesen, und kehrte nun in ein Leben zurück, an dem sie nur noch als Zuschauer teilnehmen darf. Sebastian, der mit zusammengekniffenen Augen sein Curry abschmeckt, scheint ihr fremd wie ein Schauspieler, der ohne Vorwarnung aus seiner Rolle gefallen ist. Sie möchte ihn packen und schütteln und anschreien, oder vielleicht auch umarmen und streicheln und an ihm riechen; was auch immer nötig wäre, um ihren Mann zurückzubekommen.
    Leider ist ihr seit dem Morgen keine Bewegung in seine Richtung möglich, weshalb sie nur

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