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Schilf

Schilf

Titel: Schilf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juli Zeh
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Unendlichkeit.
    Schnaufend und fluchend erreicht er die Straße. Er kämmt sich mit den Fingern kleine Zweige aus den Haaren, als ein künstliches Piepsen die Waldidylle stört.
    »Also gut, Sie Mistkerl. Ich höre.«
    »Rita Skura in Bestform! Ich bin entzückt. Leider ist mein Preis inzwischen gestiegen.«
    »Was wollen Sie, elender Erpresser?«
    Schilf legt eine Kunstpause ein und zupft sich eine letzte Klette von der Hose. Ein paar Meter weiter parkt der Streifenwagen und wirkt inmitten der anarchistisch wuchernden Natur wie ein ungebetener Gast. Hinter der Windschutzscheibe sitzt Schnurpfeil, blass und steif wie eine Wachsfigur, und würdigt den Kommissar keines Blickes. Dieser wendet sich ab und sieht auf seine Füße. Was er für die nächsten Sätze braucht, ist kein beleidigter Polizeiobermeister, sondern volle Konzentration und Überzeugungskraft.
    »Passen Sie auf, Rita. Ich brauche noch etwas Zeit, um die Sache vollständig zu klären. Ich gebe Ihnen den Namen, um Ihren Vorgesetzten den Wind aus den Segeln zu nehmen. Sonst hetzen die uns am Montag die GSG9 auf den Hals. Sind Sie noch da? Hören Sie mir zu?«
    »Labern Sie nicht, Schilf. Sagen Sie, was Sie wollen.«
    »Ich will, dass mein Mann auf freiem Fuß bleibt. Keine Untersuchungshaft, bis ich die Akte schließe. Und keine Presse.«
    Die Ansage bleibt nicht ohne Wirkung. Es dauert eine halbe Ewigkeit, bis Rita antworten kann. Als es so weit ist, klingt sie völlig verunsichert.
    »Wir sprechen von einem Mörder. Ich glaube, Sie haben sie nicht mehr alle.«
    »Und Sie haben sie noch nicht alle, Rita-Kind. Nämlich all jene, die als Verdächtige für Ihren Fall in Frage kämen. Wo sind Sie gerade?«
    »In meinem Büro.«
    »Warten Sie auf den nächsten Anruf des Polizeipräsidenten?«
    »Sie sind ein Schwein. Sie wissen genau, dass ich nicht zusichern kann, was Sie von mir verlangen.«
    »Und ob Sie das können. Rufen Sie wieder an, wenn Sie sich entschieden haben.«
    Schilf unterbricht die Verbindung. Mit beschwingten Schritten nähert er sich dem Streifenwagen, gleitet auf die Rückbank und tippt dem erstarrten Schnurpfeil auf die Schulter:
    »Sie können mich an meiner Dienstwohnung absetzen. Danach fahren Sie in die Direktion und holen meine Reisetasche aus Rita Skuras Büro. Vermutlich sind Sie heute der Einzige, der da lebend wieder rauskommen kann.«
    Der Polizeiobermeister lässt den Motor aufheulen und tritt das Gaspedal durch. Während sie durch enge Serpentinen talwärts schlingern, summt Schilf einen Satz vor sich hin, der ihm nicht mehr aus dem Kopf gehen will. Bevor es zu Ende geht, muss man etwas zu Ende bringen.

2
    W ährend Schilf in Kleidern und Schuhen auf dem Sofa seiner Dienstwohnung schläft und dabei wie die Leiche in einem seiner Mordfälle aussieht, steht Sebastian in der Familienküche, wo Maikes Sinn für Ästhetik aus jedem Schubladengriff spricht, und befasst sich mit der Zubereitung eines komplizierten Abendessens. Der Tag, an dem er seinen Sohn im Pfadfinderlager in die Arme geschlossen hat, an dem seine verzweifelte Frau zur Tür hereinrannte, nur um nach einem furchtbaren Streit wieder hinauszustürmen, und an dem sich schließlich ein Kriminalkommissar mit ihm über Physik unterhalten wollte – dieses Scheusal von einem Tag weigert sich weiterhin hartnäckig, zu Ende zu gehen. Am Nachmittag hat Sebastian nicht mehr getan, als vom Balkon zu schauen, vollauf damit beschäftigt, nicht in der Galerie anzurufen, weil er Maike Zeit geben wollte, sich an die Situation zu gewöhnen. Als er das Schweigen der Wohnung und Liams höfliche Zurückhaltung nicht länger aushielt, ist er aufgebrochen, um fürs Abendessen einzukaufen.
    Jetzt kocht er thailändisch aus einem Kochbuch, das er ganz hinten im Schrank gefunden hat. Es war noch eingeschweißt, ein unerwünschtes Mitbringsel. Mit gebeugtem Rücken steht er an der Arbeitsplatte, als wollte er seine Demut gegenüber den hochspezialisierten Küchengeräten zum Ausdruck bringen, unter denen noch der einfachste Dosenöffner seine Pflicht besser erfüllt, als Sebastian die ihm zugewiesenen Aufgaben.
    Ein guter Physiker sein. Ein glückliches Leben führen. Geliebte Menschen nicht zerstören.
    Es ist ruhig wie im Auge eines Wirbelsturms. Sebastian genießt es, den Anweisungen des Kochbuchs zu folgen, kein Für und Wider abzuwägen, keine Entscheidungen treffen zu müssen. In einem schweren Mörser zerstößt er Koriandersamen, Pfefferkörner und Kreuzkümmel zu einem

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