Schilf
sitzen und schauen und nachdenken kann. Es ist nicht einmal Dabbelings Tod, der sie halb um den Verstand bringt. Auch nicht Liams mysteriöse Entführung. Sondern das Zusammentreffen dieser beiden Dinge sowie die Tatsache, dass sie auf eine finale Weise nichts begreift. Die Leere ist kein Gegner, und ohne Gegner kann man eine Familie nicht verteidigen. Wenn Maike in ihrem bisherigen Leben etwas weniger Glück und etwas mehr Unglück erfahren hätte, würde sie den Rufnamen dieser Leere kennen: Angst.
»Ein merkwürdiger Tag«, sagt Maike nach einem Räuspern, das ihre Kehle dringend nötig hat. »Ein komischer Kerl war bei mir in der Galerie.«
»So groß wie Papa?«, fragt Liam. »Nur in alt? Dicker Bauch, Elefantengesicht?«
»Woher weißt du das?«
»Das ist unser Kommissar.«
»Du machst Witze.«
Maike ist, falls das geht, noch ein Stück blasser geworden; ihre schlecht verputzte Ruhe bröckelt an den Rändern.
»Gleich fertig!«, ruft Sebastian ihr zu, und seine Fröhlichkeit klingt aufgesetzt wie die eines Fernsehkochs. Maike beachtet ihn nicht.
»Du meinst«, sagt sie zu Liam, »dass dieser Knilch für die Polizei arbeitet? Und er war hier, bei euch?«
»Kurz nachdem du weggelaufen bist«, sagt Sebastian leise.
»Ich halt das nicht aus«, flüstert Maike.
»Er hat versprochen, alles in Ordnung zu bringen.« Verzweifelte Begeisterung biegt Liams Tonfall zu Schleifen. »Er ist klug.«
»Es ist alles in Ordnung, mein Schatz«, sagt Maike zu Liam, und zu Sebastian: »Worüber habt ihr geredet?«
Sebastian kommt mit einem Topf an den Tisch und schöpft Curry auf die Teller.
»Über das Wesen der Zeit.«
Er bittet Liam, den Reis zu verteilen, und wischt mit dem Lappen auf dem heißen Ceranfeld herum. Ein Geruch nach Verbranntem steigt auf. Sebastian kippt die Balkontür.
»Das Wesen der Zeit«, wiederholt Maike verächtlich.
Sie mischt Reis mit Soße, salzt und pfeffert, ohne gekostet zu haben.
»Kommt der wieder?«
»Hoffentlich«, sagt Liam.
Weil Frau und Kind mit erhobenem Besteck vor ihren Tellern sitzen, wirft Sebastian aufmunternde Blicke in die Runde, fischt Garnelen aus seinem Essen und spießt sie demonstrativ im Doppelpack auf die Gabel. Maike sieht sich in der Küche um, als würde sie etwas vermissen. Einen Löffel, eine Serviette. Eine Antwort.
»Bei schweren Verbrechen kann man die Anzeige nicht einfach zurücknehmen«, sagt Sebastian. »Sie ermitteln in der Entführung. Das ist Routine.«
Maike legt das Besteck neben den Teller.
»War die Polizei in Gwiggen?«, fragt sie. »Hat sie das Personal verhört? Herausgefunden, wer Liam dort abgeliefert hat?« Ihre Stimme klingt, als würde ihr jemand den Text diktieren. »Waren sie beim Rasthof? Haben sie Spuren gesucht? Zeugen ausfindig gemacht? Den Tankwart befragt?«
»Maike«, sagt Sebastian. Sonst nichts, dafür noch einmal: »Maike.«
Unweit des Balkons konferiert eine Gruppe Amseln in der Kastanie. Dem Gezänk ist anzuhören, dass ein dringendes Thema verhandelt wird: Sitzen Amseln überhaupt in Baumkronen? Spähen sie in Altbauetagen, oder sind sie erdverbundene Vögel, die ihren bodennahen Lebensraum nur in Ausnahmefällen verlassen? Und was definiert den Ausnahmefall?
Als eine Elster in den Zweigen landet, kehrt Ruhe ein.
»Schade, dass schon Samstag ist«, sagt Liam kläglich. »Sonst wäre Oskar hier.«
Sebastian beugt sich zu ihm hinüber und drückt seinen Arm.
»Sch-sch«, macht er. »Ist schon gut.«
Liam lädt eine große Portion Curry auf die Gabel und schiebt sie in den Mund. Er kaut einmal, zweimal und sitzt still, starr auf den Teller blickend, während ihm das Wasser in die Augen tritt.
»Noch zu heiß?«, fragt Sebastian.
Liam schüttelt den Kopf und schluckt gewaltsam.
»Scharf«, sagt er leise.
»Das tut mir leid.« Sebastian lässt die Hände sinken, während Maike ihren Teller von sich schiebt. »Dir schmeckt es auch nicht?«
»Doch«, sagt sie. »Aber ich habe keinen Hunger.«
»Ich kann Reis essen«, sagt Liam. »Der ist gut.«
Nach ein paar weiteren Bissen legt auch Sebastian das Besteck zur Seite, weil seine Kaugeräusche in der ganzen Küche zu hören sind. Maike trinkt Wasser. Liam versucht, einzelne Reiskörner auf die Zinken seiner Gabel zu spießen. Ein Tropfen löst sich vom Hahn und trifft das Edelstahlbecken der Spüle.
»Am Morgen nach der Entführung«, sagt Maike, »da hast du doch in Gwiggen angerufen und Liam krankgemeldet?«
»Muss das jetzt sein?«, fragt Sebastian.
»Und
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