Schilf
Fahrtwind. Es riecht nach Rosmarin, Thymian und Oregano. Nach zwei tiefen Atemzügen sieht sich Schilf vor einem hübschen Steinhaus stehen, damit beschäftigt, einen Rosenstrauch zu beschneiden. Die Mauern des Hauses leuchten im Abendlicht. Flinke Eidechsen verschwinden in den Ritzen zwischen den alten Steinen. Als der fiktive Kommissar seinen Strohhut in den Nacken schiebt, legt die Krempe des Huts eine hässliche Operationsnarbe frei, die quer über die Stirn verläuft. Gerade will er sich aus einem Tonkrug ein Glas Wein einschenken, da fährt die Fensterscheibe hoch. Schnurpfeils Finger liegt auf einem Schalter in der Mittelkonsole. Südfrankreich bricht ab.
»Wenn die Klimaanlage an ist, bleiben die Fenster zu«, sagt Schnurpfeil. »Außerdem weiß ich, dass nicht Sie für diesen Tatort zuständig sind. Sondern die Kommissarin Skura.«
Schilf beugt sich vor und klopft ihm auf die Schulter.
»Ihr Freiburger liebt eure Verbrechen, als hättet ihr sie selbst begangen.«
Eine Weile betrachtet er Schnurpfeils dicht bewachsenen Schädel. Unter diesem Urwald aus Haaren quält sich ein Gehirn mit dem Gedanken, dass es den Ersten Kriminalhauptkommissar nicht mehr als zehn Kilokalorien kosten würde, die Karriere eines jungen Polizeiobermeisters zu beenden. Schilf freut sich, dass Schnurpfeil trotzdem zu Rita hält. Gern würde er erklären, dass es ihm, bei allem Vergnügen an kleinen Ringkämpfen, gar nicht darum geht, der kraftstrotzenden Kommissarin etwas wegzunehmen. Im Gegenteil verspürt er seit dem Morgen, genauer, seit der lächelnde Physikprofessor auf einem quadratischen Photo in sein Leben getreten ist, den ebenso neuen wie unwiderstehlichen Drang, es allen Menschen recht zu machen.
Schnurpfeil, möchte der Kommissar rufen, können Sie sich vorstellen, dass mich ein Fall, für den ich heute früh nicht einmal in den Zug steigen wollte, regelrecht zu berauschen beginnt? Dass ich mich fühle, als hätte ich eine letzte Chance bekommen? Als böte sich die Gelegenheit, einen großen Bruch zu reparieren, indem ich das Leben eines Physikprofessors in Ordnung bringe! Schnurpfeil, plötzlich gibt es da jemanden, den ich retten muss. Einen Mann, dessen Theorien klingen, als säße er mitten in meinem Kopf und würde meine Gedanken formulieren, besser, als ich selbst es jemals könnte. Aber, Schnurpfeil, will er fortfahren, kann es sein, dass ich diesen Menschen, um ihm zu helfen, ins Unglück stürzen muss? Damit es kein anderer tut, der nicht in der Lage wäre, sich der leisen Missklänge des Falls mit Vorsicht anzunehmen? Was meinen Sie, Schnurpfeil, das ist doch in drei Teufels Namen ein klassisches Dilemma!
Und Schnurpfeil würde den Kopf schütteln, und erwidern: Sie sind krank, gehen Sie zum Arzt und lassen Sie die Gesunden in Ruhe ihre Arbeit tun. Oder er würde gar nichts sagen, weil er nichts begriffen hätte. Weil es für ihn nichts zu begreifen und nichts zu sagen gäbe.
»Machen Sie sich keine Sorgen«, sagt Schilf statt alledem. »Ich arbeite nach wie vor an meiner Kindesentführung.«
In Schnurpfeils Halsmuskeln zuckt es. An der Talstation der Schauinslandbahn setzt er vorschriftsmäßig den Blinker. Mit hochgereckter Schnauze klettert der Wagen in den Wald. Die Sonne blinkt wie ein Stroboskoplicht zwischen den Bäumen. Der Kommissar überlegt, am Abend seine Freundin anzurufen und das klassische Dilemma mit ihr zu besprechen. Für eine schwindelnde Sekunde meint er, ihre Telefonnummer nicht zu kennen, bis ihm einfällt, dass ihre Telefonnummer auch seine ist, weil Julia bei ihm wohnt. Genau jetzt sitzt sie mit einer Tasse Tee an der Frühstücksbar, an der sie, im Gegensatz zum Kommissar, ganz legitim aussieht, und liest in alten Akten oder einfach in einem seiner Bücher. Die letzten Minuten der Fahrt vergehen in urteilsloser Leichtigkeit.
»Wir sind da«, sagt Schnurpfeil, als der Wagen am Straßenrand hält.
»Endstation Tatort, alles aussteigen«, ruft Schilf in einem Anfall von guter Laune. »Zeigen Sie mir die Bäume.«
Schnurpfeil bleibt hinter dem Lenkrad sitzen, Blick geradeaus wie ein Soldat, und macht keine Anstalten, das Auto zu verlassen. Soll er an seiner Loyalität zu Rita Skura ersticken, denkt Schilf, der keine Lust hat auf einen dienstlichen Befehl. Mit dem Rücken voran klettert er aus dem Streifenwagen. Die beiden Stämme sind auch ohne Hilfe leicht zu erkennen. Sie flankieren die Straße wie die Pfosten eines Tors, das zwei scheinbar identische Welten voneinander trennt.
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