Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Schilf

Schilf

Titel: Schilf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juli Zeh
Vom Netzwerk:
im Pfadfinderlager hat sich niemand über die Krankmeldung gewundert, obwohl Liam längst anwesend war?«
    »Alles, was ich darüber weiß, habe ich dir gesagt.«
    »Wunderst du dich vielleicht«, Maikes Stimme steigert sich in einer hysterischen Spirale, »warum euer Superkommissar diese Frage noch nicht geklärt hat?«
    »Nein.«
    »Dann werde ich es dir jetzt sagen.«
    Sebastian widersteht dem Wunsch, beide Hände auf die Ohren zu pressen. Diesen schrillen Ton hat er noch nie an seiner Frau gehört. Seit er Maike kennt, hat er sie für stark gehalten, ohne sich jemals nach den Bedingungen dieser Stärke erkundigt zu haben. Genau wie Maike ihn packen und schütteln wollte, spürt auch er den Drang, das vom Zusammenbruch bedrohte Geschöpf auf der anderen Tischseite zu drangsalieren, bis es seine Frau freigibt. Bis die gewohnte, kühle, bis in den Tod auf Stil und Haltung bedachte Maike wieder zum Vorschein kommt. Sebastian will die nächsten Worte nicht hören. Sie stehen längst im Raum und warten nur darauf, von einem der Beteiligten ausgesprochen zu werden.
    »Die Polizei ermittelt nicht«, sagt Maike, »weil sie dir nicht glaubt.«
    »Ich gehe schon mal in mein Zimmer«, sagt Liam.
    Niemand hält ihn zurück. Sebastian sitzt krumm auf seinem Stuhl, schwer hängen die Arme an den Seiten herab. Er schaut Liam nach, als blickte er einem abfahrenden Zug hinterher. Das Essen auf den Tellern hört auf zu dampfen, über der Soße bildet sich faltige Haut. So sieht ein Abschiedsessen aus, denkt Sebastian, oder besser, etwas denkt in ihm, mit neuer, unbekannter Stimme, als säße ein Beobachter in seinem Kopf.
    »Das Problem«, sagt er und wundert sich über seine Ruhe, »besteht darin, dass du mir nicht glaubst.«
    Maike trinkt ihr Wasserglas leer und weiß danach nicht, wohin mit ihren Händen.
    »Sebastian«, sagt sie leise. »Habe ich dir jemals Anlass zur Eifersucht gegeben? Wegen Ralph?«
    Beim abrupten Aufstehen stoßen Sebastians Knie gegen das Tischbein, die Teller husten Curry auf die Tischdecke. Mit dem Rücken zum Raum stellt sich Sebastian an die Balkontür und forscht in der schwach spiegelnden Scheibe nach dem eigenen Gesicht. Er sieht sich an, dass er weiß, was zu tun wäre. Stumm spricht er sich den Satz vor, den er sagen müsste. Die Wörter »Wahrheit«, »Vertrauen«, »ich« und »Dabbeling« kämen darin vor. Darin läge für ihn und Maike vermutlich die einzige Rettung. Ein neues Gefühl verschließt ihm die Lippen. Es ist die irgendwie feierliche Überzeugung, dass es zu spät ist.
    »Bitte, Sebastian! Ich bitte dich!«
    Als er sich umwendet, flehen Maikes Augen ihn an. Sebastian hat Lust, sich an der Wand hinabgleiten zu lassen und den Kopf zwischen den Knien zu verbergen. Auch das wäre vielleicht eine gute Idee, besser jedenfalls als die unsichere Wanderung, auf die sich seine Beine begeben. Auf der Schwelle gelingt es ihm noch einmal, Maike richtig zu sehen, wie sie dort sitzt, viel schmächtiger als sonst, zusammengesunken und dünn. Er riecht ihre Furcht, die sie hart und fremd macht. Er sieht das Flattern ihrer Augenlider und ihre gehetzten Hände, die sich in den Stoff des Tischtuchs krallen. Sebastian hat keine Ahnung, wie ein Wesen mit so kleinen Händen in einer Welt wie dieser überleben kann. Wie es in der Lage ist, ein Kind aufzuziehen. Einen Mann wie ihn zu lieben. Er teilt Maikes Überzeugung, dass sie und Liam nichts anderes als Opfer sind. Die Schuld trägt er allein, und zwar hinaus auf den Flur.
    »Ich nehme dein Auto«, ruft er von dort. »Meins wurde beschlagnahmt. Wir sehen uns später.«
    So deutlich wie auf dem kurzen Weg aus der Wohnung hat er die Schwäche des Menschen noch nie gespürt. Das ganze Gehabe um aufrechten Gang, Sprachvermögen und freien Willen entpuppt sich als lächerlicher Schwindel. Da sind die Autoschlüssel, das Treppengeländer, die gusseiserne Laterne, Bäume und Häuser. Maikes Kleinwagen, der in einer Nebenstraße steht. Die Welt ist ein Leitsystem, dem es zu folgen gilt.
    Befreiende Klarheit teilt Sebastians Gedanken in übersichtliche Planquadrate. Die Stimme in seinem Kopf informiert ihn darüber, dass er soeben einen unverzeihlichen, wahrscheinlich nicht wiedergutzumachenden Fehler begangen hat. In der lückenlosen Kette aus Ungeheuerlichkeiten, zu der sein Leben geworden ist, stellt das Verlassen der Küche das Meisterstück dar. Es würde wenig Mühe kosten, auf dem Absatz kehrtzumachen, die Treppe wieder hinaufzusteigen und der Geschichte

Weitere Kostenlose Bücher