Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Schillerhoehe

Schillerhoehe

Titel: Schillerhoehe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Schaewen
Vom Netzwerk:
wahrscheinlich können wir den Anrufer noch ermitteln, wenn er nicht gerade eine Telefonzelle benutzt hat. Geben Sie mir bitte das Gerät als Beweis­ mittel, Herr Santos!«
      »Ja, natürlich.«

    Struve versuchte, die Lage zusammenzufassen:
      »Also gut, wir wissen – Schäufele hat sich niemals von den Todesschüssen an der Grenze erholt, nach der Wende ist er rüber und hat Dollinger erpresst. Wir müs­ sen uns die Frage stellen, warum Dietmar Scharf seinen Intimfeind Dollinger nicht verpfiffen hat.«
      »Ich vermute, dass eine Krähe der anderen kein Auge aushacken wollte«, sagte Luca Santos.
      »Das könnte stimmen. Beide haben sich ja ganz gut von diesem NVA­Milieu wegentwickelt«, stimmte Peter Struve zu. »Tja, und beide machen in Litera­ tur. Da hat man eine Art stummen Waffenstillstand geschlossen.«
      »Vielleicht hat Scharf auch daran gedacht, sich irgendwann mit Dollinger zu vertragen«, meinte Mela­ nie Förster. »Es konnte seiner Frau nur nützlich sein, einen alten Bekannten im Literaturarchiv sitzen zu haben.«
      »Was Dollinger aber trotzdem nicht daran gehin­ dert haben könnte, beiden Scharfs zu misstrauen«, hielt Luca Santos dagegen. »Vielleicht wusste Erika Scharf zu viel, und er hat sie deshalb abserviert. Dollinger musste nach dem Mord an ihrem Mann damit rechnen, dass die Scharf der Polizei alles erzählt.«
      »Ja, aber natürlich. So muss es gewesen sein«, sagte Struve. »Dollinger wollte beim Restaurantbesuch her­ ausfinden, wie viel sie wusste. Er hat es in bester Sta­ si­Manier aus ihr herausgekitzelt, die alten Geschich­ ten vielleicht runtergespielt. Nach dem Gespräch hat er daraus seine eigenen Schlüsse gezogen und kaltblü­ tig gehandelt.«
      »Dollinger sah, wie betrunken die Scharf war. Solch eine Chance bekam er nicht wieder, und so hat er ihre Lage ausgenutzt«, erklärte Melanie Förster.
      »Das Antidopamin­Flavol bekommt man in jeder Apotheke, man kann es problemlos in Wasser auflösen. Er hat die Spritze irgendwann nach dem Restaurant­ besuch im Hotel gesetzt, vielleicht hat er später noch mal geklopft oder sich sonst wie Eintritt verschafft, jedenfalls muss er um 2 Uhr in ihrem Zimmer gewe­ sen sein«, führte Struve weiter aus.
      »Der Rest ist bekannt«, wandte Luca Santos ein. »Dollinger ist doch noch in U­Haft, oder?«
      »Verdammt, nein!« Peter Struve griff zum Handy. Es war zu spät, Sven Dollinger war bereits seit einer halben Stunde wieder auf freiem Fuß.

    Tatsächlich bezahlte Dollinger im selben Augenblick das Taxi, das ihn zur Marbacher Schillerhöhe gebracht hatte. Er schloss die Haustür auf und atmete tief durch. Endlich wieder frei. Der Gefängnisfraß konnte ihm gestohlen bleiben. Nie wieder würde er hinter ver­ schlossenen Türen sitzen. Eher gab er sich die Kugel. Er liebte das Leben und so zündete er sich gleich einen seiner Zigarillos an. Aus seiner Hausbar nahm er sich den besten Brandy, den er hatte. Er stand in seinem Wohnzimmer und betrachtete die Reiseliteratur, die er sich im Laufe der Zeit angeeignet hatte. Dollinger blies eine große Rauchwolke in den Raum und zog den Bildband über Chile aus dem Regal. Er dachte an Erich Honecker und dessen letzten Jahre und fand, er hatte nach der ganzen Aufregung eine kleine Urlaubs­ reise verdient. Aber er musste den richtigen Zeitpunkt wählen, denn die Polizei würde ihn sicherlich beob­ achten. Jetzt sofort zu fliehen, käme einem Geständnis gleich. Er würde die Sache einige Tage lang aussitzen, um dann umso überraschender von der Bildfläche zu verschwinden. Dollinger nahm einen tiefen Schluck des Branntweins. Seine Augen drückten Entschlos­ senheit aus. Natürlich brauchte er gefälschte Papiere, wenn er am Flughafen eincheckte, aber er hatte ja vor­ gesorgt.

    Der Direktor holte sich die Schlüssel für das Archiv­ gebäude. Die Gelegenheit konnte günstiger nicht sein. Alle Mitarbeiter des Literaturarchivs nahmen an die­ sem Tag an einem Betriebsausflug nach Esslingen teil. So stieg er unbeobachtet in den Keller der Handschrif­ tenabteilung hinab. Dollinger passierte den schmalen Gang, der Dietmar Scharf zur tödlichen Falle gewor­ den war. Ein eigenartiges Gefühl beschlich ihn, aber wer außer Schäufele würde ihm hier auflauern? Na, von ihm hatte er ja nichts mehr zu befürchten. Trotz­ dem perlte ihm der Angstschweiß von der Stirn, als er den Gang durchschritt. Dollinger betrat den Teil des Kellers, der nur den

Weitere Kostenlose Bücher