Schimmer (German Edition)
für Poppas Zustand bedeutete – mein Bruder musste furchtbar außer sich gewesen sein, um so ein Chaos zu verursachen. Selbst wenn ich nun doch nichts tun konnte, um Poppa zu helfen, musste ich seine Hand halten und ihn auf die Wange küssen und ihm zeigen, dass ich da war und ihn liebhatte.
Während Lester fuhr, zuckten seine Schultern heftiger denn je, wie ein kleines Kind begann sich der dünne Mann auf seinem Sitz zu winden.
»Was ist, Lester?«, fragte Lill, als sie sah, wie unbehaglich er sich fühlte. Lester warf einen Blick über die Schulter zu uns Kindern.
»Also«, sagte er pflaumenweich und hasenherzig. »Ich habe morgen früh eine Lieferung in Wyoming, und mein Ch-Chef wird sich gar nicht freuen, wenn ich die verpasse. Ich hab schon alle anderen Lieferungen heute vermasselt, und wenn ich jetzt noch mehr verbocke … tja, dann verliere ich womöglich meinen Job«, sagte er schniefend. »Und meinen Bus.«
»Ach, der arme Lester«, kicherte Carlene. »Armer, dummer Lester. Was würde der bloß ohne seinen geliebten Bus machen?«
»Er würde am Busbahnhof Kaffee verkaufen, nichts anderes«, gackerte Rhonda.
»Aber …«, wollten wir alle protestieren.
»Wir müssen zum Salina Hope Hospital, Mr Swan. Unbedingt!«, bettelte ich. Aber Lester hatte sich entschieden und guckte uns nicht mal an.
»Ich darf meinen B-Bus nicht verlieren«, sagte er nur, leise, aber entschlossen, als wären alle seine Zahnräder wieder im Lot.
Lill sah verdattert aus.
»Es wäre wirklich schlimm, wenn du auch deinen Job verlieren würdest«, sagte sie mit einem Seufzer und schaute betrübt auf ihre grünweiße Kellnerinnenkluft. »Aber die Kinder, Lester? Was ist mit ihnen? Was ist mit Salina und ihrem Vater? Bestimmt werden sie dort von Verwandten erwartet!«
Darauf gab niemand eine Antwort. Lester zuckte. Wir anderen machten uns Sorgen und rutschten hin und her. Lills Augen wurden schmal, als sie uns in dem schummrigen Licht anschaute. Bobbi war sehr damit beschäftigt, ihr letztes Bubble Tape abzurollen. Fish pfiff tonlos vor sich hin. Will junior starrte nur auf seine Knie und fuhr sich mit der Hand durch die Locken, und ich zupfte an einem losen Stück Zackenlitze, das vom Ärmel meines Kleides herabhing. Nur Samson gelang es, nicht sonderlich schuldbewusst auszusehen, er saß neben Lill und stopfte sich abwechselnd Hamburger und Torte in den Mund.
Lill erstarrte und verschränkte die Arme vor der Brust. »Also los, was geht hier vor? Ich hab zwar ein Talent zum Zuspätkommen, aber der Groschen fällt bei mir normalerweise nicht so langsam. Allmählich hab ich das Gefühl, dass das hier doch der Bus für die bösen Kinder ist. Ich finde, jetzt sollte mir mal jemand ganz genau erklären, wo ich hier hineingeraten bin. Und zwar sofort.«
22. Kapitel
Wir waren mehr als ein bisschen verlegen, als wir Lill beichteten, was wir angestellt hatten. Lester, der Emerald hinter sich lassen wollte, fuhr Richtung Osten durch die Dunkelheit, während wir abwechselnd erzählten, wie wir uns in dem Glauben in Lesters Bus geschlichen hatten, dass er nach Salina fahren würde. Wir erzählten, wie Lester links abgebogen war statt rechts, nach Norden statt nach Süden, weg von Salina und dem Krankenhaus und unserem Poppa.
Während wir erzählten, blieb Lills Miene unverändert und auch eine ganze Weile danach, als sich ein unbehagliches Schweigen im Bus ausbreitete. Die einzigen Geräusche waren das Tuckern und Scheppern des Motors und die Stimmen in meinem Kopf.
»Wir sind tot, wir sind tot«, wiederholte Bobbis Tattoo immer wieder wie ein nervöser Herzschlag.
Lill saß lange, lange reglos da. Samson hatte seinen Hamburger aufgegessen und einen ansehnlichen Krater in die Torte gegraben, jetzt streckte er die Hand nach Wills Pommes aus. Wir anderen hatten nichts davon angerührt. Uns war der Appetit vergangen.
Schließlich stieß die große Frau einen langen, langsamen Seufzer aus, und es klang wie ein Engel, der von einer Wolke auf eine andere hinabfällt.
»Wenn’s irgendwo einen Schlamassel gibt, dann gerate ich hundertprozentig hinein«, sagte sie dann, mehr zu sich selbst als zu uns. »Heute hab ich erst mein Auto und dann meinen Job verloren. Und jetzt sieht es ganz so aus, als würde ich auch noch den Verstand verlieren.«
Wir schauten uns zu Lill um mit der leisen Hoffnung, dass sie uns nicht verpfeifen würde.
»Hört mal alle zu.« Sie
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