Schimmer (German Edition)
erhob ihre kleine Stimme über den lärmigen Motor. »Ich sag euch jetzt, was wir tun werden.« Lester lächelte. Er stand wohl auf Frauen, die ihm sagten, was zu tun war, aber wenigstens war Lill ganz anders als Carlene oder Rhonda.
Lill nahm das Heft in die Hand. Wir sollten erst Richtung Osten nach Lincoln fahren, um dort ein Motel zu suchen, so würden wir uns ein ganzes Stück von Emerald entfernen, ohne dass wir noch allzu lange fahren mussten. Lill gefiel die Vorstellung nicht, dass wir in der Nacht noch auf dem Highway waren, und sie wollte, dass wir Kinder unsere Eltern anriefen und ihnen sagten, dass es uns gutging und dass wir am nächsten Morgen nach Salina fahren würden. Ich merkte, dass Lill sich alle Mühe gab, das Richtige zu tun, voller Sorge, noch mehr Chaos anzurichten.
Eine Weile dachte ich darüber nach. Ich wollte Lester und Lill auf keinen Fall in Schwierigkeiten bringen, nur weil ich die dämliche Idee gehabt hatte, auf eigene Faust nach Salina zu reisen. Ich wusste, dass ich jetzt auf die Erwachsenen aufpassen musste. Ich musste dafür sorgen, dass ihnen nichts passierte und sie keinen Ärger bekamen, und so musste ich wohl bis zum nächsten Morgen warten, ehe ich zu Poppa konnte, anders ging es eben nicht, obwohl der Gedanke kaum zum Aushalten war.
In den wenigen Stunden, die vergangen waren, seit wir in den Bus gestiegen waren, waren wir eine merkwürdige Truppe Abtrünniger geworden. Wir versprachen Lill, zu Hause anzurufen, sobald wir im Motel angekommen wären, aber ich kreuzte die Finger hinter dem Rücken. Lester wirkte erleichtert, dass jemand anders die Entscheidungen traf; der Kampf, den geplanten Kurs für seine Lieferung zu halten, hatte offenbar den letzten Tropfen seines kleinen Nervenvorrats aufgezehrt.
Lill sprach nicht mehr davon, dass sie ihren Job verloren hatte, und niemand erwähnte es mehr. Mit zusammengekniffenen Augen zählte sie in dem schwachen Licht im Bus das Geld, das der große, allmächtige Ozzie ihr gezahlt hatte.
»Tja, Kinder«, verkündete sie lustlos. »Ich glaube, ich hab hier mehr als genug, um zwei Motelzimmer zu bezahlen. Kannst du uns ein abgelegenes Motel suchen, Lester?«
»Alles, was du sagst, Lill.«
Ich sah, dass Lill Lester zärtlich anschaute. Ich merkte ihr an, dass sie irgendetwas an Lester bewunderte. Vielleicht lag es daran, dass er angehalten hatte, um sie vor ihrem kaputten Auto zu retten, oder dass er ihr geholfen hatte, das Geld vom Boden aufzusammeln, oder sein spontaner Tortenraub in der Raststätte. Die Heldenrolle war Lester nicht gerade auf den Leib geschrieben, aber ich schätze, man sieht es den Männern nicht auf den ersten Blick an, ob ein kleiner Märchenprinz in ihnen steckt.
Lester fuhr eine ganze Weile, bevor er genau das richtige Motel fand. Auf dem Parkplatz des Lincoln Sleepy 10 standen nur wenige Autos, und das Schild mit der Aufschrift »Zimmer frei« summte und blinkte wie eine Lichtfalle.
Das Sleepy 10 lag außerhalb der Stadt, gegenüber waren ein Super-Supermarkt und eine Reihe schreiend roter und gelber Fastfood-Restaurants. Wir blieben alle im Bus, der ein Stück von dem Motel entfernt geparkt war, während Lester mit Lills Geld zur Rezeption ging. Nachdem ich in der Raststätte mein Gesicht im Fernsehen gesehen hatte, war ich nicht so scharf darauf, mehr als nötig in der Öffentlichkeit herumzutanzen, deshalb wartete ich gern mit den anderen im Bus.
Lill hatte Lester gesagt, er solle zwei Zimmer nehmen, obwohl Lester darauf bestanden hatte, im Bus zu schlafen, um »seine Waren zu b-beschützen«. Ich hoffte, dass es ein Motel mit kleiner, in Papier gewickelter weißer Seife war, mit Shampoofläschchen und mit festen weißen Handtüchern, die schön gefaltet im Bad hingen, das wäre ganz nach meinem Sinn.
»Ihr seid alle im ersten Stock«, sagte Lester, reichte Lill die Zimmerschlüssel und sah uns zu, wie wir aus dem Bus stiegen. Er war nervös und angespannt wie immer, und er sah beinahe traurig aus, als wir ihn dort zurückließen. Einen kurzen Augenblick fragte ich mich, ob er womöglich in Panik geraten und mitten in der Nacht abhauen könnte, ich dachte mir, dass selbst weniger bescheidene Helden mit dem Gedanken gespielt hätten. Doch die Art, wie Lester Lill anschaute, ließ mich daran zweifeln.
»Versprechen Sie, dass Sie morgen früh noch hier sind, Mr Swan?«, rief ich, bevor er die Bustür schloss. Lester legte den Kopf schräg wie ein
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