Schimmer (German Edition)
ihrem Gesicht geweht, die Kleider klebten ihr am Körper, als stünde sie mitten in einem Sturm. Will junior ging einen Schritt zurück und wandte sich ab, um seine Augen – und seinen Hamburger – zu schützen, als Fishs Wind Dreck und Steinchen von dem bröckelnden Straßenbelag aufwirbelte, direkt zu ihm und Bobbi hin. Plastikfolienfetzen flatterten über die Gasse wie eine Schar wilder, gespenstischer Schemen. Heftiger Regen prasselte aus dem Nichts herab, und als er gegen den Bus schlug, klang das wie Wasser aus einem Rasensprenger, das auf einen Metallzaun trifft.
Fish stand jetzt vor mir, wie ein Schutzschirm zwischen mir und Will und Bobbi Meeks. Er hatte die Füße in den Boden gepflanzt und die Arme ausgestreckt wie ein Superheld aus einem Comic, seine Haare flatterten wie wild, während er es stürmen und regnen ließ, so gewaltig, dass der Bus wackelte und Bobbi rückwärts gegen Will fiel.
Lester steckte den Kopf zur Bustür heraus, seine schräggekämmten Haare flatterten wie eine Einkaufstüte an einem Stacheldrahtzaun. Lester sah nur den wilden Wirrwarr eines aufkommenden Sturms. Er merkte gar nicht, dass Fish der Verursacher war und dass bei mir, die hinter Fish stand, kein einziges Haar verweht wurde und das Kleid kein bisschen flatterte; es war, als stünde ich in dem stillen, unbewegten Auge eines Zyklons.
Aber Bobbi und Will sahen alles und jetzt begriffen sie. Jetzt wussten sie alles, so todsicher wie nur was.
Jetzt hatten Bobbi und Will nicht mehr den leisesten Zweifel, dass die Beaumont-Kinder anders waren. Dass die Beaumont-Kinder auf außergewöhnliche, verrückte Weise unnormal waren. Aber alles in allem und letzten Endes begriffen Bobbi und Will auch, dass die Beaumont-Kinder ziemlich erstaunlich waren.
21. Kapitel
»Einen Schimmer lasieren, das ist so, als würde man sich selbst mit einer dünnen Schicht Farbe überziehen«, hatte Momma Fish und Rocket erklärt, als sie mit ihnen an einem Wintermorgen vor den Ferien malte. Ich musste an dem Tag nicht in die Schule, weil ich krank war, und genoss es, auf dem Sofa zu liegen und meinen Brüdern zuzuschauen, wie sie aus dem Gedächtnis tosende Meereswellen malten. Als Momma das mit dem Lasieren sagte, spitzte ich die Ohren und hörte ganz genau hin.
»Wenn ihr nicht genügend Farbe nehmt«, fuhr Momma fort, »kommt der Schimmer zu stark durch und bereitet euch und dem Rest der Welt ziemliche Probleme.« Momma lachte, als Fish und Rocket das Gesicht verzogen – mit diesen Problemen hatten sie schon viel zu gute Bekanntschaft gemacht.
Dann redete Momma weiter. »Wenn ihr zu viel Farbe nehmt, verdeckt ihr nicht nur euren Schimmer vollkommen, auch das meiste andere im Leben wird euch dann öde und langweilig erscheinen. Das, was euch selbst ausmacht, könnt ihr nicht vollständig ablegen und dabei glücklich sein.«
Momma nahm ihren Pinsel und tauchte ihn in eine Farbe, die viel heller war als die Farbe, die sie bereits auf der Leinwand hatte. Sie übermalte die dunkle Farbe ganz mit der hellen. Doch die helle Farbe konnte die dunkle nicht vollkommen abdecken. Stattdessen hatte die blasse Farbe einen abtönenden Effekt, durch den der dunkle Ton mit dem Rest des Bildes harmonierte.
»Ein gut lasierter Schimmer verleiht euch Klarheit und Macht«, dozierte Momma. »Euer Wissen, eure ureigene Farbe muss durchscheinen als etwas Besonderes, das die anderen nicht genau ausmachen können.«
Bei Momma hatte das so leicht geklungen. Aber in Wirklichkeit glich es eher einem Drahtseilakt als einem Sonntagsspaziergang. Je nachdem konnte es Jahre dauern, bis jemand seinen Schimmer so weit im Griff hatte, dass er sich wieder unter die Leute wagen konnte, und selbst wenn man erwachsen war, verlief nicht unbedingt alles reibungslos. Deshalb ging der Hausunterricht in Kansaska-Nebransas weit, weit über Lesen, Schreiben und Rechnen hinaus.
Stärker und immer stärker fegte Fishs Wind über den Weg. So heftig hatte er vielleicht seit dem Tag nicht mehr gestürmt, an dem sein Hurrikan uns zum Umzug gezwungen hatte. Seit seinem dreizehnten Geburtstag musste Fish immer besonders hart daran arbeiten, seine eigene besondere Farbe durch all die dunklen Sturmwolken hindurchschimmern zu lassen. Wenn man so einen mächtigen Schimmer hat wie er, ist das so ähnlich, wie wenn man mit Wut im Bauch aufwacht: Man muss sich dann ganz besonders anstrengen und sich in Geduld üben, um sich zu beherrschen.
Dort in
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