Schimmer (German Edition)
er flog rückwärts gegen das Bett, stand jedoch schnell wieder auf und packte ihre Füße jetzt noch fester.
Es dauerte keinen Augenblick – Punkt, Punkt, Strich –, da hatte ich ein einfaches Gesicht auf Carlenes rissige, von Hornhaut verunstaltete Fußsohle gemalt.
»Wo ist mein Bruder?«, fragte ich und versuchte alles auszublenden bis auf Carlenes Stimme in meinem Kopf, doch es fiel mir schwer, das immer lauter werdende Hämmern an der Tür und den Regen zu ignorieren, der jetzt auf den Wohnwagen trommelte. »Wo ist er?«, rief ich wieder, dann lauschte ich auf die Stimme ihrer Gedanken.
»Er ist selbst reingeklettert, der räudige kleine Schnüffelhund«, antwortete die Carlene-Stimme in meinem Kopf, während die beiden Punkte über dem mürrischen Strichmund zwinkerten. »Ich hab ja nur die Frontplatte verriegelt, damit er nicht wieder rauskann.«
»Was für eine Frontplatte? Wo steckt er?«, fragte ich, und einen kurzen Augenblick lang hörte Carlene auf sich zu wehren, sie schaute mich verdattert an. »Wo ist Samson selbst reingeklettert?«, fragte ich.
Endlich gelang es Carlene, den dicken, klebrigen Kaugummi auszuspucken, wie ein zerkautes Stück Fleisch landete er neben Fish auf dem Teppich. Doch sie fing nicht wieder an zu schreien. Sie sagte kein Wort. Stattdessen sah sie mich an, hinterlistig und neugierig.
»Woher weiß das Mädchen von der Frontplatte?«, fragte sich das Gesicht, das ich auf Carlenes Fuß gemalt hatte, in meinem Kopf. Ihre Augen wurden schmal, während sie mich genau ansah. Diese Frau war wirklich gruselig. Es war fast, als könnte sie meine Gedanken lesen, und einen Moment lang hatte ich Angst. Wenn nun ein so böser Mensch wie Carlene herausbekäme, was es mit uns Beaumonts auf sich hatte und was unser Schimmer mit uns anstellte? Hoffentlich musste ich das nie erfahren.
Doch bevor ich über diese neue Sorge weiter nachdenken konnte, wurde ich von einer ganz neuen Stimme in meinem Kopf abgelenkt – gedämpft und fern wie ein verstecktes Glockenspiel, das kaum je läutet. Die Stimme erinnerte mich an …
»Samson!«
»Ich bin in der Wand«, sagte die Stimme in meinem Kopf. Dann verdoppelte sie sich. »Ich bin in der Wand – ich bin in der Wand.« Während ich lauschte und die Sekunden verrannen und ich weder auf Carlene noch auf sonst jemanden achtete, vervielfachte sich Samsons Stimme wieder und wieder und wieder, bis sie sich selbst so viele Male überlagerte, dass die Worte zu einem melodischen Kauderwelsch verschwammen.
Ich bin in der Wand.
Ich bin in der Wand – ich bin in der Wand.
Ich bin in der Wand – ich bin in der Wand – ich bin in der Wand – ich bin in der Wand.
Ich bin in der Wand – ich bin in der Wand – ich bin in der Wand – ich bin in der Wand.
Ich bin in der Wand – ich bin in der Wand.
… in der Wand.
Ich hob die Hand, wie um einige der Stimmen zum Schweigen zu bringen, und war mir bewusst, dass die anderen, darunter Carlene, mich mit Spannung beobachteten.
»Es ist Samson«, sagte ich. »Ich kann ihn hören. Er sagt, er ist in der Wand . Was bedeutet das?« Alle schauten von mir zu Carlene, erschrocken und verwirrt.
Fish brüllte Carlene wütend an, die blonde Mähne wehte ihr aus dem Gesicht und sie blinzelte in die Bö. »Sagen Sie uns, wo er ist!«
Ich wartete Carlenes Antwort nicht ab. Ich ließ meinen Stift und Carlenes hässlichen Fuß fallen, sprang auf, sauste aus dem Schlafzimmer und folgte Samsons Stimme wie bei einem Versteckspiel mit »heiß« und »kalt«, bis ich wieder vor dem Tisch stand, unter den Samson hatte krabbeln wollen. Dort war seine Stimme am lautesten, aber da hatte ich ja schon nachgesehen …
Ich bin in der Wand.
Ich bin in der Wand – ich bin in der Wand.
Ich bin in der Wand – ich bin in der Wand – ich bin in der Wand – ich bin in der Wand.
Ich bin in der Wand – ich bin in der Wand – ich bin in der Wand – ich bin in der Wand.
Ich bin in der Wand – ich bin in der Wand.
… in der Wand.
Ich schaute zu der vertäfelten Wand der Theke direkt hinter dem Tisch, und jetzt fiel mir auf, dass die Bretter unregelmäßig waren, sie überlappten einander wie die Schiebetüren eines kleinen Wandschranks. Jetzt begriff ich, dass man die Vertäfelung öffnen konnte.
Die anderen waren mir ins Wohnzimmer gefolgt und sahen mir zu, wie ich mich vor die vertäfelte
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