Schimmernder Dunst über CobyCounty (German Edition)
für Wesley und mich eine lange Tradition haben. Seit wir mit der Highschool fertig sind, waren wir dort jedes Jahr, anfangs mit den Eintrittskarten, die unseren Dads zugesandt wurden, später mit den Akkreditierungen unserer Hochschule. ›Schimmernder Dunst über CobyCounty‹ ist ein kritischer Dokumentarfilm über das leichte Leben in unserer Stadt, eine französische Jungregisseurin gewann damit vor zwei Jahren den Spezialpreis beim Festival von Cannes. Es heißt zwar, dass sie diesen Preis auf keinen Fall verdient habe, doch seit der Film in europäischen Programmkinos gezeigt wurde, kommen noch mehr attraktive Touristen im Frühling.
Wesley gibt Führungen im CobyCountyArthouse, dem konservativsten und teuersten Museum der Stadt. Während der Arbeit muss er helle Pullover und marineblaue Hosen tragen. Alle Mitarbeiter des Museums sehen wie Seemänner aus alten Bilderbüchern aus. An Feiertagen sind sie sogar angewiesen, die dazu passenden Mützen aufzusetzen. Wesley weigert sich, so eine Mütze zu tragen, denn er findet Uniformen bedenklich. Sobald es um die Seemannsmützen geht, verhält er sich wie ein Sechzehnjähriger. In Wahrheit wird Wesley am siebzehnten Mai aber schon siebenundzwanzig. Früher hat mir die Idee gefallen, sich bis in den Joballtag hinein ein Stück Pubertät zu erhalten, doch mittlerweile ermüdet mich Wesleys Art manchmal, denn eigentlich geht es ihm ja gut. Er hat dunkelblondes, schulterlanges Haar, und wenn er an heißen Tagen in Badehose an einem Strandkorb lehnt, dann sieht er aus wie ein braun gebranntes einundzwanzigjähriges Herrenmodel. Eigentlich braucht er sich nicht zu beklagen.
Als er mich in der Agentur abholen will, ist es noch viel zu früh, die Premiere beginnt erst in zwei Stunden, also koche ich Kaffee und stelle uns einen Teller mit Obst auf den alten Eichenholztisch in der Küche. Die Kaffeemaschine arbeitet fast geräuschlos. Van Persy hat sie an einem Dienstag im Internet bestellt und schon am Mittwoch wurde sie von einem hageren Postbeamten in die Agentur getragen. Jedenfalls trinke ich jetzt jeden Tag mindestens zweimal Kaffee und es kommt mir tatsächlich so vor, als würde mich das optimistischer und produktiver machen. Dass ich Kaffee erst jetzt mit Mitte zwanzig kennengelernt habe, nachdem andere sich schon in ihrer Highschoolzeit ständig Pappbecher am Automaten abgefüllt haben, bringt mich manchmal zum Lächeln. Es ist ein bitteres Lächeln, denn im Kern lächle ich ja darüber, dass ich nach all den Jahren eingeknickt bin, und darüber, dass die anderen immer recht hatten. Ich gieße den Kaffee in Tassen, die mit Tiergesichtern bedruckt sind. Tiergesichter: das ist so ein Running Gag zwischen Wesley und mir.
Durch alle Fenster der Agentur kann man das Meer sehen. »Ich gehe irgendwie davon aus, dass es in CobyCounty ausschließlich Büros gibt, die von Licht durchflutet werden« , sage ich zu Wesley, der mir heute etwas verschwiegen erscheint, und Wesley sagt: »Ja. Davon gehe ich auch aus.« Wir schütten Rohrzucker in unsere Tiertassen und schauen in den farblosen Nachmittag hinter den Scheiben. Die Wolkendecke ist zwar zu dünn, als dass es aus ihr regnen könnte, doch erst ab Anfang März wird die Sonne wieder aus einem durch und durch blauen Himmel auf CobyCounty herunterbrennen. Nicht immer habe ich Augen für unser Panorama. Vielleicht kann man sich nicht sechsundzwanzig Jahre lang jeden Abend neu davon überwältigen lassen, wie die Sonne glühend im Meer versinkt und dann auf dem Pier die Lichterketten angehen. Vielleicht lasse ich mich manchmal aber auch nicht genug darauf ein.
Wesley hält seine leere Kaffeetasse vors Fenster. Er trinkt alles immer sehr schnell. »Was ist das eigentlich für ein alter Tisch?« , fragt er und befühlt das Eichenholz. Ich sage: »Calvin Van Persy hat ihn aus dem Haus seiner Großmutter mitgebracht. Der Tisch soll der Agentenküche die Seele geben, die auch gute Texte brauchen.« Wesley grinst und ich erwidere sein Grinsen. Augenblicke später schlägt er vor, einen Umweg durchs Industriegebiet zu fahren.
Im Industriegebiet haben die Lokale im Frühling vierundzwanzig Stunden am Tag geöffnet. Am Valentinstag schließen sie nicht vor drei Uhr nachts. Wir fahren auf alten Damenrädern an gut besuchten Suppenrestaurants und koreanischen Bistros vorbei. Es wird jetzt schlagartig dunkel. Ich kann Wesleys Dynamo summen hören, obwohl seine Lampe kaum leuchtet. Wir würden niemals ohne Licht fahren, dafür immer
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