Schimmernder Dunst über CobyCounty (German Edition)
den irren Karneval des Industriegebiets: Mädchen und Jungs Anfang zwanzig, die sich in den Armen liegen, die tanzen und johlen. Wesley flüstert: »Da! Da war ich! Hast du gesehen?« Ich habe Wesley schon wieder nicht gesehen, aber ich nicke. Teile des Publikums sprechen die bekanntesten O-Töne laut mit: »Wir träumen davon, eines Tages auf dem ColemenHills Softeis zu verkaufen.« Und dann lachen alle. Als nach zweiundachtzig Minuten die Credits über die Leinwand fahren und mir die Namen vieler Statisten wie immer bekannt vorkommen, habe ich das Gefühl, dass im gesamten Saal ein warmer Zusammenhalt herrscht.
Im Foyer blicke ich sofort auf mein Handy: keine Nachricht von Carla. Sie ist also immer noch in der Lage, mich zu überraschen. Wesley und ich nehmen noch ein Getränk. Er sagt: »Indem der Film ausschließlich Bilder von CobyCounty zeigt, verweist er ganz subtil auf eine Welt da draußen.« Er führt seinen Strohhalm zum Mund und zieht eine große Menge Flüssigkeit aus seinem Longdrink: »Gerade deshalb ist der Film auch international so erfolgreich.« Wesleys Stimme klingt etwas höher als sonst und er ist nicht offen für Widerworte. Glücklicherweise sehe ich momentan auch keinen Anlass, Wesley zu widersprechen.
Draußen herrscht Sturm. Die meisten Premierenbesucher winken Taxis herbei, ihre Jacken und Mäntel flattern. »Lass uns mal wieder mit der Hochbahn fahren« , sage ich zu Wesley. Von dort oben sind gut achtzig Prozent des Stadtgebiets zu überblicken, und jetzt in der Nacht wäre zu erkennen, wie symmetrisch unsere Straßenlaternen angeordnet sind. Ich erinnere mich, dass dieser Blick immer sehr beruhigend auf mich gewirkt hat, schon als ich erst neun oder elf Jahre alt war. Aber Wesley sagt: »Auf die Hochbahn habe ich heute überhaupt keine Lust. Es ist viel zu windig.« Ich halte seine Aussage für abwegig, aber ich möchte nicht diskutieren, ich sage: »Vielleicht hast du recht.« Wesley war nie ein Fan der Hochbahn, er scheint sogar irrationale Ängste mit der Bahn zu verbinden. Laut Statistik hat es in den vergangenen siebzehn Jahren nur drei Verzögerungen im Betriebsablauf gegeben, soweit ich weiß keine einzige wegen Sturm. Die Hochbahn schwebt auf einer stabilen Schiene über die Stadt, täglich zwischen acht Uhr morgens und drei Uhr nachts, im Frühling sogar länger. Allerdings ist der Sturm der diesjährigen Valentinsnacht tatsächlich außergewöhnlich. Er zerreißt die Frisuren der Passanten und schleudert leere Getränkedosen aus den Mülleimern heraus. An Radfahren ist gar nicht zu denken. Wir stemmen uns gegen den Wind und schieben unsere Damenräder bis ins Industriegebiet, wo wir uns von den hohen Fassaden Schutz versprechen. In den Imbissen und Bistros brennt noch Licht. Überall scheinen sich Paare an Zweiertischen gegenüberzusitzen, Karaffen mit Wein zu bestellen und sich bemüht in die Augen zu blicken. Ich glaube nicht, dass es hier Beziehungen gibt, in denen der Valentinstag ungebrochen zelebriert wird. Vor unseren Füßen rotieren Sandkörner, manche fliegen uns in den Mund, also sprechen wir kaum. Es scheint mir, als hätte der letzte Longdrink Wesley ziemlich nachdenklich gemacht. Früher hätte er in dieser Stimmung ein leicht drastisches Gespräch gesucht, über die Unmöglichkeit aufrichtiger Erotik zum Beispiel, oder über die Angst, eines Tages mal selbst ein Dad zu sein. Heute weiß er sich zu kontrollieren. An unserer Kreuzung verabschieden wir uns mit einem gegenseitigen Nicken.
Als ich die Verkehrsinsel vor meiner Wohnung passiere, fürchte ich, dass die dort installierte Shampooskulptur vom Sturm aus ihrer Halterung gerissen werden und mich erschlagen könnte. Dabei weiß ich grundsätzlich, dass Colemen&Aura-Skulpturen mit ihren Schaumstoffkernen und den dünnen Pappmachéüberzügen dafür gar nicht schwer genug und eigentlich sicher sind. Die übergroße Shampooflasche biegt sich elastisch im Wind, ist jedoch bombenfest mit ihrem Sockel verschnürt. Ich schiebe mein Fahrrad in den Hof und kette es an.
Nach wenigen Stunden Schlaf stehe ich in Boxershorts auf meinem Balkon. Mittlerweile ist es windstill. Junge Frauen und Männer in hellen Uniformen durchkämmen die Stadt und lesen auf, was vom Sturm über die Straßen verteilt wurde. Sie schieben blaue Müllkörbe auf Rollen vor sich her und nutzen große Greifzangen. Sie hinterlassen glattgebügelten, in der Morgensonne glänzenden Asphalt. Erst spät fällt mein Blick auf die Verkehrsinsel und
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