Schimmernder Dunst über CobyCounty (German Edition)
sehr schnell. Das bewahren wir uns: dieses sportliche Fahren im Stehen. Wir durchschneiden CobyCountys wandlungsfähigsten Bezirk und unsere halb geöffneten Regenjacken blasen sich im Wind auf. Viele der ehemaligen Fabrikräume von Colemen&Aura sind hell erleuchtet, und selbst im Vorbeirasen sehe ich, wie in einem der ersten Stockwerke eng getanzt wird. Soweit ich weiß, nehmen dort Paare jenseits der fünfunddreißig an therapeutischen Tanzkursen teil. In der Nacht, in der ich zum dritten Mal mit Carla geschlafen habe, waren wir dort in einem Seminar für neueren Flashdance. Als jüngste Teilnehmer brachten wir der Veranstaltung zu wenig Ernst entgegen und kehrten nie zurück. Heute leben Carla und ich unsere erwachsen gewordene Liebe primär via Shortmessages aus. Wir waren noch nie gut im Telefonieren. Durch die Leitung klingt meine Stimme auch dann müde und genervt, wenn ich gar nicht müde und genervt bin. Carlas Art, schriftlich immer neue, simple Metaphern dafür zu finden, dass sie mich sehr vermisst, gefällt mir.
Das Premierenpublikum hat sich im großen Empfangssaal des Kinos versammelt. Es steht mit seinen Straßenschuhen auf dickem, bordeauxrotem Teppich und viele halten sich wegen des Valentinstags an den Händen. Das Kino wurde erbaut, als sich CobyCounty gerade zur Kurstadt entwickelt hatte und vor allem alte Colemen&Aura-Kunden hier Bäder genommen und Fisch gegessen haben. Zu dieser Zeit hat es an jedem vierzehnten Februar Paraden gegeben, auf denen neue Produkte präsentiert wurden, insbesondere Parfums und edle Seifen. Die Aufzeichnungen, die es von diesen Paraden gibt, kursieren heute in manchen Onlineforen, sie werden zu Musikvideos verfremdet und als Grußkarten verschickt. Das CobyCounty von damals ist trotz dieser Videobeweise für manchen kaum vorstellbar. Meinem Geschichtsunterricht zufolge haben die Halbgeschwister Jerome Colemen und Steven Aura, die zwei wohlhabende Drogeristen waren, in CobyCounty zunächst nur eine sonnige Produktionsstätte für Hygiene- und Schönheitsartikel gesehen. Mit dem Bau ihrer ersten Beautyfarm hätten sie wenige Jahre später, eher unbewusst als kalkuliert, den Grundstein für die gesamte Kultur- und Tourismusszenerie der Stadt gelegt. In den Folgejahren habe es dann immer mehr junge Avantgardisten an diesen unverbrauchten, am Meer liegenden Ort gezogen, sodass CobyCounty facetten- und temporeich heranwachsen konnte. International wird diese Entwicklung teils als ›fragwürdiges Industriemärchen‹ bezeichnet. Ohne die ›mächtigen Investoren aus der Kosmetikbranche‹ wäre auch das ›individuelle Engagement der jungen Zugereisten‹ undenkbar gewesen, heißt es da. Oft wird auch vor dem örtlichen Klima gewarnt, dieses könne jederzeit prekäre Situationen erzeugen. Mich haben solch indirekte Anfeindungen nie besonders beschäftigt, schließlich leben wir alle gerne hier. Unser Frühling ist fantastisch und stabil, der Sommer drückend, der Herbst mild, nur im Winter müssen wir uns vor Starkregenschauern in Acht nehmen. So ist unser Klima nun mal, und eigentlich fiele niemandem ein, sich darüber zu beklagen.
In der Menschenmenge im Kinofoyer entdecke ich zwei meiner Autoren. Sie sind als Paar gekommen, sie ist neunzehn, er einundzwanzig. Wenn ich die beiden nun sehe, entstehen allerhand Bilder vor meinen Augen, die ich aus ihren Texten kenne: erotische Szenen, abgründige Szenen, und Szenen, die ich streiche. Weil die Autorin mir das sicher ansieht, lächelt sie leicht verlegen. Ich umarme zuerst sie, dann ihren Freund, beide auf meine neue, herzliche Art. Es kommt zu einem kurzen verbindlichen Drücken. Danach prosten wir uns zu und sagen: »Bis bald.«
Die Kinositze wurden neu bezogen, mit leicht aufgerautem, glänzendem Samt. Die Lehnen sind riesig und ich habe das Gefühl, dass sie schlecht für den Rücken sind. Wesley scheint neben mir zu versinken, er hatte nun schon einige Biere. Ich stelle eine Portion Eiskonfekt zwischen uns. Von überall her kann man es rascheln und knuspern hören. Die jungen Leute in CobyCounty sind Fans von redundanten, kleinen Snacks, trotzdem ist fast niemand übergewichtig. Das liegt vermutlich an unserer Liebe zum Sport, denke ich, während ein quadratisches Eiskonfektstück in meiner Mundhöhle zergeht. Mit Beginn des Films wird angetrunken applaudiert.
Auf der Leinwand ist zuerst unser Strand zu sehen, an einem eisblauen Tag, vermutlich im April. Zu hören ist nur das Meer. Es folgt ein trockener Schnitt in
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