Schischkin, Michail
ohne dass einer dem anderen zugehört hätte. Nikitin: »Wir
werden gezwungen, Hurra zu brüllen - dabei müssten wir um Hilfe schreien! Von
überall treffen Nachrichten bei der Oswag ein, denen zufolge die Mobilisierung
gründlich schiefgegangen ist, die Bauern greifen sich die Waffen und verschwinden
im Wald. Man kann sie nur noch abschreiben!« Als Nächstes zog er über das
Oberkommando der Freiwilligenarmee her. »An der Front herrscht der Notstand,
man geht dort barfuß und nackt - derweil sitzen sie hier in schneidigen Röcken
und trinken Champagner. Die einen, während sie großmäulig die baldige Einnahme
von Moskau verkünden, reißen sich alles Mögliche unter den Nagel, den anderen
bleibt nichts als das nackte Gewissen und die Läuse auf ihrem Kopf, während sie
in den Tod gehen! Und wofür? Für Russland? Welches Russland? Etwa das hier? Ob
es das lohnt?«
Und nun
ging es erst richtig los: Vaterland und Pflicht und Schuldigkeit und heilige
Mission und Opfer und natürlich: das Volk! Einer immerhin sagte etwas
Treffendes: Man soll in einem brennenden Haus keine Patiencen legen!
Ich hörte
mir das an und hätte am liebsten dazwischengebrüllt: Herrgott! Von welcher
Mission redet ihr? Welcher Schuldigkeit? Welchem Volk? Die Leute wollen doch
nur leben, lieben, Freude haben!
Lasarewski
suchte die Streithähne zu versöhnen, indem er das Gespräch auf den Kalender
brachte: Es sei doch wirklich unvernünftig, den von den Bolschewiki eingeführten
gregorianischen Kalender wieder rückgängig machen zu wollen. Mal ehrlich, was
kann denn der Kalender dafür? Und er sprach den ganz erstaunlichen Satz: »Sie
wollten 13 Tage aus dem Kalender schneiden und haben ein Loch in die Zeit
gemacht!« Gut gesagt! Wir stecken in einem Zeitloch. Aber die beiden wollten
nichts davon hören, brüllten weiter aufeinander ein. Lasarewski, als er
feststellen musste, dass keiner ihm zuhörte, zog ein saures Gesicht, blieb noch
ein halbes Stündchen hocken und trollte sich.
Der arme
Pawel versuchte hie und da, seine russische Idee anzubringen. Begriff wieder
einmal nicht, dass den Streithähnen nicht an einer Idee gelegen war, sondern an
der Dame des Hauses! Solche einfachen Dinge gehen über seinen Horizont. Er
kennt sich nur mit komplizierten aus.
Noch beim
Tee hielt das Gebrüll an. Es ging nun um Willkür und Grausamkeit und dass das
hehre Ideal der Freiwilligkeit sich längst verflüchtigt habe. Nikitin über die
Freiwilligenarmee: »Sie erhob sich als heilige Märtyrerin und fiel schmählich
auf die Nase - wie es allem in Russland ergeht!« Und von Neuem ging es rund:
Die Losungen hätten sich als scheinheilig erwiesen, das Vertrauen wäre mit
Füßen getreten worden, das Heldentum in den Schmutz gezogen... Beim Zuhören
hatte ich den Eindruck, als drehten sie alle gemeinsam die Kurbel eines großen
Leierkastens! Wie öde das war!
Gegen Ende
des Abendessens, als alle zu satt waren, um sich noch weiter zu streiten, kam
die Rede auf das Rittertum. Ein solches habe es bei uns nie gegeben, so
Ladyshnikow, nur die Tugend der Demut, des Gehorsams, des Aufgehens in der
Masse: »Ein Ritter hingegen ist immer einsam, er lässt sich nicht von Zar und
Vaterland zur Geißel nehmen, er ist der Ehre verpflichtet!« Nein, gerade
Russland sei die Heimstatt des wahren Rittertums, hielt Nikitin dagegen, denn
diesem liege ein Pflichtbewusstsein zugrunde. »Jenen ist es nur um ihre schöne
Dame zu tun. Uns um Russland! Jene haben einem dahergelaufenen Dummchen mit
Keuschheitsgürtel vor den Lenden ihr Leben geweiht. Wir - dem Volke, der
Heimat! Ist das etwa nicht das wahre Rittertum?«
Die darauf
entstehende Pause, in der die Kontrahenten ihren Tee schlürften, nutzte Pawel
für den Einwurf, es habe in der russischen Geschichte ganze zwei Fälle von
Rittertum gegeben: den Orden der Opritschniki unter Iwan dem Schrecklichen zum
einen, das kurze Intermezzo von Paul I. als Großmeister der Malteser zum
anderen. Darauf entgegnete Ladyshnikow in herablassendem Ton: »Ich darf Sie
daran erinnern, junger Mann, dass in der russischen Armee seit 1894 Duelle
erlaubt sind, das will etwas besagen! Sie waren damals übrigens noch gar nicht
auf der Welt, scheint mir.« Ich stieß Pawel unter dem Tisch mit dem Fuß an,
damit er den Mund hielt, denn ich spürte, dass er kurz davor war hochzufahren
und unnütze Dinge zu sagen. Wir sind dann sehr schnell aufgebrochen. Ein
verbumfiedelter Abend!
Während
Pawel mich nach Hause brachte, bekamen die
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