Schischkin, Michail
Zaun
gesehen, wie Pankows Jungs mit Korditschnüren spielten. Die sehen aus wie
Makkaroni - lange braune Röhrchen. Shirow sagte, diese Makkaronis kämen als
Sprengmittel in die Patronen und hätten eine kuriose Eigenschaft: Unter Druck,
erhöhtem Luftdruck zum Beispiel, detoniert das Zeug sofort. Zündet man es
einfach bloß an, brennt es herunter, ohne zu explodieren.
8. August
1919. Donnerstag
Den Abend
mit Papa verbracht. Wir haben Hundert Jahre nicht mehr so miteinander geredet,
so wie früher. Ich fragte ihn nach Jelena Olegowna. Er sagte, dass er diese
Frau seit Langem liebe, aber er und Mama seien damals übereingekommen, um
unseretwillen den Anschein des Eheverhältnisses zu wahren, bis wir groß sind.
Er war gekommen, seine restlichen Papiere zu holen. Ich half ihm beim
Einsammeln.
Er
beklagte sich über die unmöglichen Zustände im Lazarett. Die Verwundeten seien
unberechenbar, nähmen sich viel heraus - schmuggelten Alkohol ein, streiften
grölend durch die Stadt bis in die tiefe Nacht, man habe keine Handhabe gegen
sie. Was soll eine Nachtschwester ausrichten? Die ängstigt sich doch vor ihnen
zu Tode. Es fehlt an Medikamenten, die chirurgischen Fälle bekommen aus Mangel
an Material tagelang ihre Verbände nicht gewechselt, Operationen schiebt man auf
von Tag zu Tag. Eine Spritze für die ganze Abteilung! Die Toiletten verdreckt,
Betten Mangelware, sodass die Verwundeten auf Brettern oder auf dem blanken
Fußboden liegen und sich mit den eigenen Lumpen zudecken müssen. Mein armer
Papa, er leidet sehr darunter und kann doch nichts machen! Glücklicherweise ist
die Typhusepidemie in der Stadt noch nicht ausgebrochen, es ist aber nur eine
Frage der Zeit. Alles ist verkommen - auch die Pflegerinnen stehlen, lassen
mitgehen, was nicht niet- und nagelfest ist, und wandern ab in ihre Dörfer -
nur die Abteilungsleiter sind noch da. Papa hat beim Stadtkommandanten erwirkt,
dass eine Spendensammlung veranstaltet wird, über die Zeitungen wurde
angeordnet, Bettwäsche für das Krankenhaus abzugeben. Aber was da eintrifft,
wird von den Wäscherinnen flugs gegen alte, verschlissene Wäsche ausgetauscht
und beiseitegeschafft. Sie stehlen medizinischen Alkohol und trinken ihn, ohne
sich am Geschmack des Karbols zu stören, das extra beigemischt wird, damit
keiner Missbrauch treibt!
Am
schlimmsten ist es in der Abteilung für Geisteskranke. Die sind überhaupt von
allen verlassen und vergessen.
Das ewig
versprochene Geld wird nicht ausgezahlt, sein Brot verdient Papa mit seinem
eigentlichen Fach. »Den Gonokokken ist es gleich, wer draußen regiert«, scherzt
er bitter.
Alle sind
vollkommen enthemmt, auch das Personal. Papa erzählte eine schreckliche
Geschichte: In der Chirurgie lag eine verwundete Feldschwester von den
Bolschewiki. Die Oberschwester vom Dienst war Maria Michailowna Andrejewa, ich
kenne sie bestens, sie war häufig bei uns zu Besuch. Ihr Sohn, Kadettenschüler,
ist durch rote Kosaken unter Qualen zu Tode gekommen. Die Wunden dieser Frau
eiterten, doch sie bekam keinen frischen Verband - Maria Michailowna ließ es
nicht zu. »Soll die Hündin verrecken wie ein Hund!«, hat sie gesagt.
9. August
1919. Freitag
Der Erfolg
im Soleil zieht Kreise. Heute bot man mir im Mosaik zu singen an!
Torschin
versprach mir einen Auftritt in der Groteske zu verschaffen. Er hat schon mit
Alexejew gesprochen. Dort gastieren demnächst auch die Kiewer aus dem Krummen
Jimmy. Ich werde mit Wladislawski, Kurichin, Chenkin und der
Butschinskaja auf einer Bühne stehen!
Im
Divertissemento und im Jachta habe ich schon gesungen. Jetzt im Soleil. Als Nächstes
kommt das Mosaik. Und das Buffo an der Sennaja Ploschtschad hat auch endlich
wieder aufgemacht! Nach den Kundgebungen war dort alles kurz und klein
geschlagen. Ich habe schon mal reingeschaut: nicht wiederzuerkennen! Der Saal
ist prächtig ausgestattet, mit gemütlichen Separees, elektrischer
Schmuckbeleuchtung. Und dort werde ich singen! Jawohl! Eines Tages erobere ich
noch die Bretter des Asmolow! Und das Maschonkin! Und das Theater in
Nachitschewan! Alle Bühnen, die es gibt! Das wäre doch gelacht!
Nochmals
nachgelesen. Musste über mich selber lachen. Anmaßend wie bei Gogol der
falsche Revisor.
Aber schön
wäre es schon!
10. August
1919. Samstag
Mama und
ich waren in der Kirche, zur Messe für Sascha. Ein Jahr ist vergangen seit
seinem Tod.
Mama ist
in letzter Zeit immer sehr niedergeschlagen. Sie tut mir so leid!
Zu Hause
stießen wir
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