Schischkin, Michail
Und
ich fühlte nichts als Angst.
Vor den
Leuten tue ich verwegen. Alle Ängste, alle Tränen fließen nur in dieses Buch.
Ich habe Angst vor allem Möglichen: durchzufallen, nicht bei Stimme zu sein,
vor einem leeren Saal zu stehen. Und am meisten davor, dass die Leute mich
anlügen könnten. Aus Mitleid! Was, wenn Talent und Stimme einfach nicht
genügen?
Letzte
Nacht träumte ich wieder den Fliegentraum. Es hört nicht auf!
Ich kann
nichts und bringe nichts zuwege! Habe mir eingebildet, eine Sängerin zu sein -
und kriege nun gehörig eins in die Fresse. Jawohl! Und das geschieht mir recht!
Alles, was
ich zu vergessen suche, schleicht sich des Nachts wieder ein in meinen Kopf.
Kaum schließe ich die Augen, stehe ich wieder auf der Bühne des alten
Offiziersklubs. Ich werde angekündigt, gehe raus, sehe nichts, beginne mein
Lieblingslied, aus dem Repertoire der Plewizkaja: Über den Feldern der Mond...
Und wieder geschieht das Entsetzliche: Ich verschlucke mich. Eine Fliege ist
mir in den Hals geflogen!
Ein Debüt
nach Maß. Nur dass mein Zopf zu kurz ist, um mich dran aufzuhängen.
Ich
schreibe das hier nur, um es loszuwerden, zu vergessen.
Alles
spricht vom bevorstehenden Gastspiel des Künstlertheaters, Katschalow und
seine Truppe! Eben erst war Wertinski da, und nun das Künstlertheater! Ich
werde sie alle sehen: Katschalow, die Germanowa, die Knipper!
Ich habe
mir einen Band Wertinski-Lieder gekauft. Welch ein Genius, mein Gott. Man sieht
das alles bildhaft vor sich: das arme Mädchen ohne Beine, das auf dem Friedhof
schläft und sich vom lieben Gott zum Frühlingsanfang zwei große Beine wünscht -
oder der Neger im lila Frack, der in den Pelzmantel hilft, oder die Frau, die,
vor Schmerz von Sinnen, die toten Junker auf die blauen Lippen küsst...
Wie gut,
dass wir neulich bei Maschonkin nicht geizten und Karten für die dritte Reihe
kauften - 85 Rubel das Stück! Für die erste bezahlte man hundert!
Die
Schrift auf dem Plakat hätte ruhig etwas größer sein können.
Puh! Was
bin ich für eine ruhmsüchtige Pute. Morgen treffe ich mich mit Pawel. Unser
letzter Tag.
2. August
1919. Freitag
Schlechte
Neuigkeiten. Ich merkte gleich, dass mit Pawel etwas war. Wir trafen uns wie
üblich unter dem Vordach des Asmolow-Theaters, gingen von da ins Empire. Das
Leben findet wieder in die normalen Bahnen zurück. Die Bedienung im Frack,
gestärkte Kragen und Manschetten, glatt rasiert, nach Kölnischwasser riechend.
Die Damen hübsch herausgeputzt. Schöne Musik - die Musiker Juden, leider
wasserstoffblondiert. Es sang irgendeine auswärtige Person, und zwar
grauenvoll. Schwarze Rose - schon dieser Name! Und die bekam auch noch Blumen
hinaufgeworfen. Die Leute haben keine Ahnung. Ein niedliches Frätzchen ist
alles, worauf es ihnen ankommt.
Pawel war
einsilbig. Schließlich sagte er: »Lass uns gehen! Ich kann dieses Publikum
nicht ertragen!« Dabei wäre ich gerne noch ein Weilchen geblieben. Gesagt habe
ich wieder einmal nichts. Stand folgsam auf und ging mit. Wir liefen die
Sadowaja entlang, an der Landkarte vorbei. »So Gott will, hat das alles bald
ein Ende!«, sagte ich zu ihm, da fuhr er mich an: »Nichts hat ein Ende!« Und
begann auf die Oswag zu schimpfen: Die kehrten alles unter den Teppich, und
wenn einer wirklich sagte, was ist, dann hieße es gleich, er wäre ein roter
Agent. »Dabei sind das beim Sicherheitsdienst alles Diebe, Räuber und Schufte -
ein ehrlicher Mensch geht da nicht hin! Ein Gerangel um Posten und um Macht,
überall nur Freibeuterei und Korruption, und alles zittert um die eigene Haut
und schweigt!«
Etwas
musste vorgefallen sein. Ich versuchte ihn auszufragen. Erst wiegelte er ab;
schließlich gab er zu, Probleme mit der Oswag zu haben. Er habe von einem Fall
erfahren und gewollt, dass die Zeitungen darüber schreiben; daraufhin habe man
ihn telefonisch mit Drohungen zum Schweigen bringen wollen. Es geht um einen
Eisenbahntransport aus Noworossisk, der statt Munition, Kleidung und Proviant
Spekulantenware beförderte. Und sowieso bekomme die Front aus dem Hinterland
nichts als bunte Oswag-Bildchen mit dem Kreml und irgendwelchen Märchenrecken
darauf geschickt. Überall fehle es an Munition; stattdessen expedieren der
Kommandant und seine Helfershelfer Stoffballen, Parfüm, Seidenstrümpfe und
Handschuhe durch die Gegend; hinten werde ein Wagen mit Militärgut angehängt,
und in jeden Wagen komme eine Kiste Granaten, so gehe das Ganze als
Militärtransport
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