Schischkin, Michail
hängen
doch hier wie die Fledermäuse kopfüber in allen Ecken, und keiner sieht sie!
Stecken den Kopf unter die Flügel, rollen sich ein und warten auf ihre Stunde!
Der wirklich Allmächtige aber, der muss nicht warten, der ist immergrün. Man
sieht ihn nur nicht gleich. Dazu muss man erst mal raus an die frische Luft.
Kommt, ich zeige ihn euch... Ihr geht hinaus, du als Erster, während die Frau,
die Narben an den Beinen hat und zugleich keine, noch drinnen verharrt, weil
wieder einmal eine Reisegruppe den Eingang blockiert. Während du also zwischen
den Säulen stehst und wartest, dass sie herauskommt - vielleicht eine Minute,
vielleicht auch all die Jahre, sie steht und wartet, bis der Letzte durch ist,
um nicht in der Tür mit ihm zusammenzustoßen -, zeige ich dir das
Allerwichtigste, schau: Die Rück- und Seitenfront ist aus Ziegeln gemauert,
aber weiter oben hängt da auf einmal dieser Felsvorsprung aus rosa Kalkstein,
daran Säulen kapitelle und Reste eines Frieses mit Delfinen, alles mit Moos
bewachsen und überwuchert, siehst du, von Gott: ein zartes, lockeres Gekräusel.
Bei uns zu Hause ist es eine Zimmerpflanze, die ohne menschliche Wärme nicht
überlebt, hier hingegen wächst sie als Unkraut. Adiantum capillus veneris heißt
sie in der toten Sprache, die Lebendes bezeichnet. Venushaar, ein Kräutlein aus
der Gattung der Frauenhaarfarne. Gott des Lebens. Sanft schaukelnd im Wind. Es
ist wie ein Nicken: Ja, ja, fürwahr, dies ist mein Tempel. Meine Erde. Mein
Wind. Mein Leben. Kraut der Kräuter. Hier wuchs ich, als eure Ewige Stadt noch
nicht existierte, hier werde ich wachsen, wenn sie mal nicht mehr ist. Da könnt
ihr noch so viel alte Bart- und Chlamysträger entwerfen, die sich die
unbefleckte Empfängnis ausdenken, malt und meißelt, was ihr wollt, ich stoße
durch alle Leinwände, all euren Marmor breche ich auf. Jede Ruine im Forum
besiedele ich, und unter jedem Ziegelstein im Phlox bin ich auch. Wo ich nicht
zu sehen bin, dort sind meine Sporen. Wo ich nicht bin, da war ich, da werde
ich sein. Ich bin, wo ihr seid. Ihr seid auf der Piazza Colonna? Ich auch. Die
Demonstranten tragen weiße Kittel. Morire con dignitä!, skandieren sie ins
Megaphon. Das sind die Ärzte aus der Onkologie, sie drohen mit Streik, wenn
ihre Gehälter nicht erhöht werden. Sie traktieren die Passanten mit einem
ellenlangen Appell: Unterschreiben, unterschreiben, früher oder später sprechen
auch Sie bei uns vor. Ist Ihre Prostata wirklich noch ganz in Ordnung, mein
Herr? Aha, na, wir werden ja sehen. Und hier auf dem Corso, wo die Massen sich
drängen und die Krawatten zum Reinbeißen billig sind, findet das Judenrennen
statt. Sie rennen nackig, wie es sich gehört, barfuß bis zum Hals, haha - so
wie sie den Jesus ans Kreuz genagelt haben. Carnevale! Carnevalissimo! Es
jauchzt das Volk und verlustiert sich. Noch der letzte Armenhäusler, der nichts
hat, womit er sich verkleiden könnte, dreht seine Jacke auf links, reibt sich
das Gesicht mit Kohle schwarz und mischt sich ins bunte Treiben. Denn Frohsinn
liegt ihm nun mal in der Natur. Essen, trinken, fröhlich sein und ein hübsches
Mädchen frein! Die Juden haben sich natürlich losgekauft, nur einer ist übrig,
ein Orotsche. Ein armer Schneider, der keinen Rock hat und kein Kissen, aber
Frau und Kinder und darum viel Verdruss. Der wird von den Tungusen nun auf den
Corso geführt. Frau und Kinder schreien Ach und Weh, nehmen Abschied von ihrem
Väterlein, denn dass der Mann lebendig am Ziel eintrifft, ist nicht anzunehmen.
In der Menge werden Spießruten verteilt. Der Orotsche lässt die Hosen runter,
die ganze Straße lacht sich tot. Dann steht er splitternackt, die Hände vor der
Scham, und spricht: Sie werden mich gleich töten, und was ich noch sagen
wollte: Ich liebe euch sehr, dich, Shenja, und dich, Aljoscha, und dich,
Witenka! Auf die Plätze, fertig, los. Da läuft er, und sie schlagen zu. Erbarmt
euch, liebe Brüder. Er läuft, sie schlagen zu. Erbarmt euch, liebe Brüder. Er
läuft, sie schlagen zu. Erbarmt euch, liebe Brüder. Dann ist Schluss, aus, er
kann nicht mehr. Er fallt. Jetzt geht es ans Sterben. Und plötzlich sieht er,
da läuft ja noch wer hinter ihm her, ein nackter, dürrer Mann. Wer ist das?
Haut und Knochen, Blut und Schweiß, zitternder Bart. Auch er ist am Ende, das
sieht man. Aber die Nase ist anders als meine, denkt der Orotsche, also bin das
nicht ich. Und der Orotsche kennt sämtliche Juden in Rom. Ein Fremder,
schlussfolgert er.
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